Lob der Gleichheit
Die vorherrschende Ideologie betont
heute in unserer Gesellschaft stets die Verschiedenheit. Das entspricht
der Existenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen und dem Konkurrenzprinzip,
dem die wesensmäßig gleichen Menschen auf je spezifische Weise
in Gestalt von Anforderungen, die in diesem Prinzip Ausdruck finden, ausgesetzt
sind. Die Vorstellung und Rede von der a priori gegebenen
Verschiedenheit der Menschen gibt zugleich der Vorstellung einer anzustrebenden
Chancengleichheit Auftrieb, welche an das alte republikanische Ziel der
egalité, der Gleichheit getreten ist – ein Ziel,
das die Unteren stets anders verstanden als die sogenannte Mittelklasse
und ihre Juristen. Solche Favorisierung der Verschiedenheit findet auch
in den Werbestrategien, in der – weitgehend scheinhaften – Differenzierung
der Produktionspalette und in der hierarchischen und funktionalistischen
Differenzierung der »Positionen« in der Arbeitswelt seinen
Ausdruck. Und sogar in der sogenannten Erziehungswissenschaft, einer Disziplinierungs-»Wissenschaft«,
die heute zum Lob des „individualisierten Lernen[s]“ neigt.(1)
Gewiß – wenn hier von wesensmäßiger
Gleichheit der Menschen die Rede ist, so lässt sich die diesen auferlegte
oder durch die gegebenen Verhältnisse aufgezwungene gesellschaftliche
Ungleichheit, die unter ihnen herrscht, nicht verleugnen. Soziologen rechtfertigen
die gesellschaftlich produzierten Unterschiede fundamental recht ähnlicher,
um nicht zu sagen, gleicher Menschen, die sich vielfach instinktiv nach
Anerkennung ihrer menschlichen Würde und nach einer in den gesellschaftlichen
Beziehungen gelebten und erlebten Gleichheit sehnen, als Ausdifferenzierung,
also als etwas, das mit den Menschen geschieht. Den gleichen gesellschaftlichen
Wesen, mit denen etwas geschieht, dass sie trotz ihrer wesensmäßigen
Gleichheit ungleich (und zu »Objekten«.) macht, bescheinigen
dieselben Ideologen aber ihre Eigenart als Individuen (als »Subjekte«),
indem sie zugleich mit dem Banner der sogenannten Ausdifferenzierung das
Banner der Individualisierung als einer unabweisbaren und
unvermeidlichen gesellschaftlichen Tendenz hochhalten. Wobei diese Individualisierung
nichts weiter ist als die Ungleichbehandlung und die in der Folge von den
Ungleichbehandelten erlebte und gefühlte gesellschaftliche Ungleichheit
der wesensmäßig Gleichen auf Grund ihrer je verschiedenen Position:
sei es als Unternehmer oder als Arbeitnehmer; bei letzteren, ausdifferenziert
nach Funktion und Höhe des Lohns (bzw. Gehalts).(2) Wozu dann, in
der Welt der »Freizeit«, nämlich jener der außerhalb
der beruflichen Tätigkeit erlebten Sphäre (der sogenannten Reproduktionssphäre),
auf Grund ihrer ungleichen Kaufkraft, die in ihrer Rolle als »Konsumenten«
erfahrene gesellschaftliche Ungleichheit hinzutritt. Also diejenige, dieses
Mal nicht in der Arbeitswelt erfahrene Ungleichheit, der sie – die
angeblich freien und einzigartigen Individuen – unterworfen sind
als Menschen, die nicht nur zur Befriedigung ihrer wirklichen Bedürfnisse
weitgehend auf den Markt angewiesen sind. Sondern die im Kontext des Marktes
ihre wirklichen Bedürfnisse nur ungleich, und das heißt für
die Masse, unzureichend befriedigen können. Während sie andererseits
nichtsdestoweniger auch mit zuvor nicht gefühlte (gleichsam falsche)
Bedürfnisse weckenden Strategien in zielgruppenspezifischer Weise
konfrontiert und somit unterschiedlichen Manipulationsvorhaben der Produkt-Werbung
ausgesetzt sind. Letztere bedeuten oft eine scheinhafte Bedürfnisbefriedigung,
ein dem Ersatz Auf-den-Leim-Gehen und damit zugleich ein billiges Abgespeistwerden.
„Mit dem Tinnef vom Kurfürstendamm“, so brachte es seinerzeit der
Schriftsteller Stefan Heym auf den Begriff.
Es gibt ohne Frage also in unserer
Gesellschaft eine reale Auseinanderdividierung, aber zugleich
auch – jene erstere gleichsam verdoppelnd – eine mit Hilfe der Ideologie
in den Köpfen verbreitete. Legitimatorisch bringt das wirkliche Unglück
der wirklich ungleichen Verhältnisse, denen wir ausgesetzt sind, eben
jene Soziologie auf den Begriff, die in affirmativer Absicht mit Kategorien
wie »individuell«, »Individualisierung«, »Ausdifferenzierung«
operiert. Ganz so, als stelle das damit Angedeutete nicht den kategorialen
Abglanz falscher, ungleicher und ungerechter, entfremdeter Verhältnisse
zwischen den gleichen Menschen dar. Sondern als bedeute dergleichen vielmehr
– daran lassen diese als Apologeten eines flexiblen Status Quo auftretenden
Denker keinen Zweifel – einen »gesellschaftlichen Fortschritt«.
Die ideologische Auseinanderdividierung
der wirklichen gesellschaftlichen Wesen, die als Menschen auf Grund ihrer
Gattungszugehörigkeit zur Gattung Mensch(heit) im wesentlichen gleich
sind, und ihre Darstellung entweder als »Subjekte«
oder als »Objekte« ist ein notwendiger Ausfluss
einer ungleichen, nämlich auf struktureller Ungleichheit basierenden
Gesellschaftsordnung, also einer produzierten und reproduzierten Ungleichheit,
gegen die sich spontan alles in diesen Gattungswesen wehrt. Und zwar in
den von der Ungleichheit Profitierenden, insofern auch sie an der damit
einhergehenden Trennung und Isolation des Gattungswesens, das sie sind,
leiden; in den Anderen aber, weil sie die Ungleichheit der erlittenen Verhältnisse
und die Minderung ihrer Würde und ihrer Möglichkeiten, ihre wirklichen
Bedürfnisse zu befriedigen, konkret in ihren gelebten Leben erfahren.
Sowohl die Profiteure der gegebenen Ordnung wie jene, die in ihrer subalternen
Rolle – als politisch und ökonomisch in spezifische Abhängigkeiten
Gebrachte – den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, sind sowohl
Subjekt als auch Objekt der Geschichte. Ihre bewußte
Praxis macht sie zum Subjekt; ihr Unterworfen-Sein unter Verhältnisse,
die das Resultat menschlicher Praxis sind, sowie ihr der Praxis Anderer
Ausgesetzt- und Unterworfen-Sein macht sie zum Objekt. Sie sind, als Herrschende
wie als Beherrschte, als Ausbeutende wie als Ausgebeutete, immer und in
jedem Moment beides zugleich.(3)
Der »Individualismus«
als Haltung und Ideologie, ebenso die affirmative – im anvisierten Sachverhalt
eine angemessene Antwort auf die unterstellte Verschiedenheit der Menschen,
auf die gleichsam spontane Individualisierung als notwendige, unvermeidliche,
fortschrittliche und demokratische Tendenz unserer Gesellschaft annehmende
– Rede von der »Ausdifferenzierung«
und auch die Ideologie der Chancengleichheit erfüllen
vor allem eine gesamtgesellschaftlich notwendige, den herrschenden Verhältnissen
geschuldete Funktion: Sie versuchen implizit, zu bestätigen, dass
die gegebene gesellschaftliche Ungleichheit natürlich sei, weil die
Menschen alle verschieden, also ungleich seien.
Der Psychoanalytiker, Kulturtheoretiker
und Gesellschaftskritiker Arno Gruen, der die psychosozial destruktiven
Tendenzen der gegenwärtigen, auf Konkurrenz aufbauenden Gesellschaftsordnung
in seinen Studien wiederholt herausgearbeitet hat und der für eine
die Menschen einbeziehende Demokratie, aber auch für eine solidarische,
kooperative statt vom Profitmotiv und der Konkurrenz angetriebene Ökonomie
plädiert, hat im Rückgriff auf Siegmund Freud einen wichtigen
Hinweis gegeben, welcher die der individualistischen Ideologie zugrundeliegende
Grundannahme einer starken, ausgeprägten und fundamentalen Ungleichheit
des Gattungswesens Mensch den Boden zu entziehen geeignet ist.
Arno Gruen hat diesen interessanten
Hinweis im Jahr 2002 in einem von ihm im Rahmen einer akademischen Veranstaltung
in Helsinki vorgetragenen Beitrag gegeben. Im Kontext dieser Rede läuft
das von ihm Gesagte hinaus auf das Gegebensein von – sagen wir ruhig, ergänzend,
gesellschaftlich produzierten – Vorbehalten der meisten Personen
in unserer Gesellschaft gegen selbst geringfügige Verschiedenheiten
bei anderen Menschen, bei gleichzeitiger grundsätzlicher Gleichheit
dieser selben Menschen. Es geht also um die Feststellung einer Verkennung,
einer verkennenden psychischen Reaktionsweise.
Die hier interessierende Passage
bei Gruen lautet: „Freud schrieb in seinem aus dem Jahre 1917 stammenden
Aufsatz ‚Das Tabu der Jungfräulichkeit’: »Es sind genau die
minimalen Unterschiede zwischen Menschen, welche ansonsten gleich sind,
welche die Basis für Gefühle der Fremdheit und der Feindseligkeit
zwischen ihnen bilden«.“ Gruen fuhr dann fort: „Warum, fragt Ignatieff,
können Brüder einander mit größerer Leidenschaft hassen
als sie Fremde hassen? »Männer und Frauen teilen ein gemeinsames
genetisches Erbe, bis auf ein Chromosom oder zwei. Und doch ist die Differenz
statt die Gemeinsamkeit stets hervorgehoben worden, und zwar so sehr, daß
unbestreitbar gemeinsame Merkmale – wie die geistigen Fähigkeiten
– als ungleich angenommen wurden, trotz aller das Gegenteil bezeugenden
Belege.«.“(4)
Das, worauf hier abgezielt werden
soll, ist die Unterscheidung zwischen dem Primären,
der Gemeinsamkeit der menschlichen Wesensmerkmale, also dem Gleichen
– und dem Abgeleiteten bzw. Sekundären, den gesellschaftlich
produzierten Ungleichheiten oder Ausdifferenzierungen. Es geht
um eine Bewertung der letzteren. Sind sie so wesentlich als Ausflüsse
und Ergebnisse ungleicher Existenzbedingungen von Klassenangehörigen
in einer Klassengesellschaft, dass sie – diese »Ausdifferenzierungen«
oder sekundären, kleinen Verschiedenheiten, die uns so stark trennen
können – sich als Legitimation, als Begründungen und Rechtfertigungen
der gegebenen und (der Intention der Profiteure nach) fortgesetzten Ungleichheit
eignen?
Unbezweifelbar kann die sozialpsychologisch
orientierte Forschung in unserer heutigen Gesellschaft Attitüden (Haltungen,
attitudes) und Glaubensinhalte (Meinungen, beliefs), die „sozialen Gruppen
oder Klassen eigentümlich“ sind, diagnostizieren.(5)
Unbezweifelbar hat die Soziolinguistik
in dieser Gesellschaft keine Schwierigkeiten gehabt, Anzeichen zu finden,
an Hand derer man einen „restringierten Code“ bei Sprechern einer Sprache
diagnostizieren zu können vermeint, wenn diese Sprecher nur der Arbeiterklasse
(oder Schicht, wie man oft zu sagen vorzieht) angehören. Und auch
die Frage: Warum unterscheidet sich die Kindererziehung, je nach der Klassenzugehörigkeit
der Erziehenden, ist nicht als fehlgeleitet und sinnlos abzutun.(6)
Aber setzen diese sekundären,
gesellschaftlich produzierten geringfügigen Unterschiede der Artikulationsweise,
der Erziehungsweise, der Haltungen, Meinungen, Werte und Vorurteile, auch
der erworbenen praktischen und intellektuellen Fertigkeiten Freuds und
Arno Gruens Entdeckung und Hervorhebung der commonality,
der Gemeinsamkeit der features, der Wesensmerkmale des Gattungswesens
Mensch außer Kraft? Oder ist es vielmehr die letztere Erkenntnis,
der wesensmäßig gleichen menschlichen Potentiale, der zur Entfaltung
fähigen Wesenskräfte, die aber auch deformierbar sind, unterdrückbar,
abstumpfbar, die entmutigt, verletzt, und der Verkümmerung anheim
gegeben werden können, die uns davon überzeugen müsste,
dass es gilt, nicht den »Ausdifferenzierungen« und der Zunahme
der gesellschaftlichen Ungleichheit das Wort zu reden oder in anderer Form
an ihrem Fortschreiten mitzuwirken. Sondern im Gegenteil, nach Formen und
Wegen einer kompensatorischer Gerechtigkeit zu suchen, welche die diversen
Effekte der »Ausdifferenzierung« nicht nur zu reduzieren, sondern
umzukehren geeignet wären.(7) Um so die gleiche volle Entfaltung allen
Menschen zu ermöglichen. Nicht »Individualisierung«, sondern
Individuation: das Entstehen emotional und intellektuell
reifer, verantwortungsvoller Persönlichkeiten, die nicht länger
die kleinen Besonderheiten ihrer Talente und Vorlieben fetischisieren und
marktgängig zur Geltung bringen.
Vielleicht ist es am ehesten in
einem gemeinsamen, solidarischen Handeln, dank darin gewonnener Erfahrungen
und auf Grund damit verbundener Lernprozesse möglich, jene menschlichen
Wesenskräfte bereits heute wenigstens im Ansatz zur Entfaltung zu
bringen, die uns dem Ziel der Individuation, der Existenz freier und reifer
Menschen in einer befreiten Gesellschaft, ein Stück weit näher
bringen.
Anmerkungen
(1) Siehe Reinhard Kahl, „Der Vorteil, verschieden
zu sein“, in: nds/Neue Deutsche Schule, Nr.5/2011, S.17f.. - Erinnern wir
uns aber daran, dass Denker wie Ivan Illich und, auf andere Weise,
A.S. Neill, Hartmut van Hentig etc. die Pädagogik – als eine Disziplinierung,
also Einübung in Anpassung an institutionelle Erfordernisse und an
eine institutionelle Logik betreibende Disziplin – mit Recht
ebenso wie die Institution, in der allein sie zur Geltung kommt,
kritisiert haben. (Vgl. vor allem: I. Illich, De-schooling Society).
(2) Es ist bekannt, dass in unserer Gesellschaft
zu der Ausdifferenzierung der Beschäftigten nach Position und Gehalt
genau hiervon abgeleitete Vorstellungen von Status sowie mit diesen Status-Vorstellungen
korrespondierende Praktiken hinzutreten.
(3) Siehe hierzu auch: Lucien Goldmann,
Lukacs et Heidegger, Paris (Denoël/Gonthier, Reihe: Médiations)
1973, S.140-144)
(4) Das Originalzitat lautet: „Freud in his 1917
essay, ‘The Taboo of Virginity,’ wrote: ‘It is precisely the minor differences
in people who are otherwise alike that form the basis of feelings of strangeness
and of hostility between them.’ Why, Ignatieff asks, can brothers hate
one another with greater passion than they hate strangers? Why do men and
women always emphasize the differences between them? ‘Men share a common
genetic inheritance with women, down to a chomosome or two, and yet it
is difference rather than commonality that has always been salient, so
much so that undeniably common features - such as mental capacity - have
been construed as unequal, notwithstanding all evidence to the contrary.’"
Arno Gruen, “The Need to Punish. The Political Consequences of Identifying
with the Aggressor.” (Translated by Hildegarde and Hunter Hannum.) Presented
at Martti Siirala's 80th Birthday Seminar, 30th November 2002, Helsinki,
Finlandia Hall [Rückübersetzung von mir, XY
(5) Michael Argyll, The Psychology of Social
Class, London (Routledge) 1994, S.4
(6) Ebenda, S.2
(7) Für das Konzept der kompensatorischen
Gerechtigkeit und ein Verständnis der aktuellen Bedeutung dieses Konzepts
bin ich Gesprächen mit J. Weidenfels sowie Jo Jankowicz und – wie
diese – vor allem Juan Rodriguez-Lores zu Dank verpflichtet.
Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
Check: http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
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