Barbara Lohfeld

Lob der Gleichheit

Die vorherrschende Ideologie betont heute in unserer Gesellschaft stets die Verschiedenheit. Das entspricht der Existenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen und dem Konkurrenzprinzip, dem die wesensmäßig gleichen Menschen auf je spezifische Weise in Gestalt von Anforderungen, die in diesem Prinzip Ausdruck finden, ausgesetzt sind. Die Vorstellung und Rede von der a priori gegebenen Verschiedenheit der Menschen gibt zugleich der Vorstellung einer anzustrebenden Chancengleichheit Auftrieb, welche an das alte republikanische Ziel der egalité, der Gleichheit getreten ist –  ein Ziel, das die Unteren stets anders verstanden als die sogenannte Mittelklasse und ihre Juristen. Solche Favorisierung der Verschiedenheit findet auch in den Werbestrategien, in der – weitgehend scheinhaften –  Differenzierung der Produktionspalette und in der hierarchischen und funktionalistischen Differenzierung der »Positionen« in der Arbeitswelt seinen Ausdruck. Und sogar in der sogenannten Erziehungswissenschaft, einer Disziplinierungs-»Wissenschaft«, die heute zum Lob des „individualisierten Lernen[s]“ neigt.(1)  

Gewiß – wenn hier von wesensmäßiger Gleichheit der Menschen die Rede ist, so lässt sich die diesen auferlegte oder durch die gegebenen Verhältnisse aufgezwungene gesellschaftliche Ungleichheit, die unter ihnen herrscht, nicht verleugnen. Soziologen rechtfertigen die gesellschaftlich produzierten Unterschiede fundamental recht ähnlicher, um nicht zu sagen, gleicher Menschen, die sich vielfach instinktiv nach Anerkennung ihrer menschlichen Würde und nach einer in den gesellschaftlichen Beziehungen gelebten und erlebten Gleichheit sehnen, als Ausdifferenzierung, also als etwas, das mit den Menschen geschieht. Den gleichen gesellschaftlichen Wesen, mit denen etwas geschieht, dass sie trotz ihrer wesensmäßigen Gleichheit ungleich (und zu »Objekten«.) macht, bescheinigen dieselben Ideologen aber ihre Eigenart als Individuen (als »Subjekte«), indem sie zugleich mit dem Banner der sogenannten Ausdifferenzierung das Banner der Individualisierung als einer unabweisbaren und unvermeidlichen gesellschaftlichen Tendenz hochhalten. Wobei diese Individualisierung nichts weiter ist als die Ungleichbehandlung und die in der Folge von den Ungleichbehandelten erlebte und gefühlte gesellschaftliche Ungleichheit der wesensmäßig Gleichen auf Grund ihrer je verschiedenen Position: sei es als Unternehmer oder als Arbeitnehmer; bei letzteren, ausdifferenziert nach Funktion und Höhe des Lohns (bzw. Gehalts).(2) Wozu dann, in der Welt der »Freizeit«, nämlich jener der außerhalb der beruflichen Tätigkeit erlebten Sphäre (der sogenannten Reproduktionssphäre), auf Grund ihrer ungleichen Kaufkraft, die in ihrer Rolle als »Konsumenten« erfahrene gesellschaftliche Ungleichheit hinzutritt. Also diejenige, dieses Mal nicht in der Arbeitswelt erfahrene Ungleichheit, der sie –  die angeblich freien und einzigartigen Individuen –  unterworfen sind als Menschen, die nicht nur zur Befriedigung ihrer wirklichen Bedürfnisse weitgehend auf den Markt angewiesen sind. Sondern die im Kontext des Marktes ihre wirklichen Bedürfnisse nur ungleich, und das heißt für die Masse, unzureichend befriedigen können. Während sie andererseits nichtsdestoweniger auch mit zuvor nicht gefühlte (gleichsam falsche) Bedürfnisse weckenden Strategien in zielgruppenspezifischer Weise konfrontiert und somit unterschiedlichen Manipulationsvorhaben der Produkt-Werbung ausgesetzt sind. Letztere bedeuten oft eine scheinhafte Bedürfnisbefriedigung, ein dem Ersatz Auf-den-Leim-Gehen und damit zugleich ein billiges Abgespeistwerden. „Mit dem Tinnef vom Kurfürstendamm“, so brachte es seinerzeit der Schriftsteller Stefan Heym auf den Begriff.

Es gibt ohne Frage also in unserer Gesellschaft eine reale Auseinanderdividierung, aber zugleich auch – jene erstere gleichsam verdoppelnd – eine mit Hilfe der Ideologie in den Köpfen verbreitete. Legitimatorisch bringt das wirkliche Unglück der wirklich ungleichen Verhältnisse, denen wir ausgesetzt sind, eben jene Soziologie auf den Begriff, die in affirmativer Absicht mit Kategorien wie »individuell«, »Individualisierung«, »Ausdifferenzierung« operiert. Ganz so, als stelle das damit Angedeutete nicht den kategorialen Abglanz falscher, ungleicher und ungerechter, entfremdeter Verhältnisse zwischen den gleichen Menschen dar. Sondern als bedeute dergleichen vielmehr – daran lassen diese als Apologeten eines flexiblen Status Quo auftretenden Denker keinen Zweifel – einen »gesellschaftlichen Fortschritt«.

Die ideologische Auseinanderdividierung der wirklichen gesellschaftlichen Wesen, die als Menschen auf Grund ihrer Gattungszugehörigkeit zur Gattung Mensch(heit) im wesentlichen gleich sind, und ihre Darstellung entweder als  »Subjekte« oder als »Objekte« ist ein notwendiger Ausfluss einer ungleichen, nämlich auf struktureller Ungleichheit basierenden Gesellschaftsordnung, also einer produzierten und reproduzierten Ungleichheit, gegen die sich spontan alles in diesen Gattungswesen wehrt. Und zwar in den von der Ungleichheit Profitierenden, insofern auch sie an der damit einhergehenden Trennung und Isolation des Gattungswesens, das sie sind, leiden; in den Anderen aber, weil sie die Ungleichheit der erlittenen Verhältnisse und die Minderung ihrer Würde und ihrer Möglichkeiten, ihre wirklichen Bedürfnisse zu befriedigen, konkret in ihren gelebten Leben erfahren. Sowohl die Profiteure der gegebenen Ordnung wie jene, die in ihrer subalternen Rolle –  als politisch und ökonomisch in spezifische Abhängigkeiten Gebrachte –  den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, sind sowohl Subjekt als auch Objekt der Geschichte. Ihre bewußte Praxis macht sie zum Subjekt; ihr Unterworfen-Sein unter Verhältnisse, die das Resultat menschlicher Praxis sind, sowie ihr der Praxis Anderer Ausgesetzt- und Unterworfen-Sein macht sie zum Objekt. Sie sind, als Herrschende wie als Beherrschte, als Ausbeutende wie als Ausgebeutete, immer und in jedem Moment beides zugleich.(3)

Der »Individualismus« als Haltung und Ideologie, ebenso die affirmative – im anvisierten Sachverhalt eine angemessene Antwort auf die unterstellte Verschiedenheit der Menschen, auf die gleichsam spontane Individualisierung als notwendige, unvermeidliche, fortschrittliche und demokratische Tendenz unserer Gesellschaft annehmende – Rede von der »Ausdifferenzierung« und auch die Ideologie der Chancengleichheit erfüllen vor allem eine gesamtgesellschaftlich notwendige, den herrschenden Verhältnissen geschuldete Funktion: Sie versuchen implizit, zu bestätigen, dass die gegebene gesellschaftliche Ungleichheit natürlich sei, weil die Menschen alle verschieden, also ungleich seien.
Der Psychoanalytiker, Kulturtheoretiker und Gesellschaftskritiker Arno Gruen, der die psychosozial destruktiven Tendenzen der gegenwärtigen, auf Konkurrenz aufbauenden Gesellschaftsordnung in seinen Studien wiederholt herausgearbeitet hat und der für eine die Menschen einbeziehende Demokratie, aber auch für eine solidarische, kooperative statt vom Profitmotiv und der Konkurrenz angetriebene Ökonomie plädiert, hat im Rückgriff auf Siegmund Freud einen wichtigen Hinweis gegeben, welcher die der individualistischen Ideologie zugrundeliegende Grundannahme einer starken, ausgeprägten und fundamentalen Ungleichheit des Gattungswesens Mensch den Boden zu entziehen geeignet ist. 

Arno Gruen hat diesen interessanten Hinweis im Jahr 2002 in einem von ihm im Rahmen einer akademischen Veranstaltung in Helsinki vorgetragenen Beitrag gegeben. Im Kontext dieser Rede läuft das von ihm Gesagte hinaus auf das Gegebensein von – sagen wir ruhig, ergänzend, gesellschaftlich produzierten –  Vorbehalten der meisten Personen in unserer Gesellschaft gegen selbst geringfügige Verschiedenheiten bei anderen Menschen, bei gleichzeitiger grundsätzlicher Gleichheit dieser selben Menschen. Es geht also um die Feststellung einer Verkennung, einer verkennenden psychischen Reaktionsweise.

Die hier interessierende Passage bei Gruen lautet:  „Freud schrieb in seinem aus dem Jahre 1917 stammenden Aufsatz ‚Das Tabu der Jungfräulichkeit’: »Es sind genau die minimalen Unterschiede zwischen Menschen, welche ansonsten gleich sind, welche die Basis für Gefühle der Fremdheit und der Feindseligkeit zwischen ihnen bilden«.“ Gruen fuhr dann fort: „Warum, fragt Ignatieff, können Brüder einander mit größerer Leidenschaft hassen als sie Fremde hassen? »Männer und Frauen teilen ein gemeinsames genetisches Erbe, bis auf ein Chromosom oder zwei. Und doch ist die Differenz statt die Gemeinsamkeit stets hervorgehoben worden, und zwar so sehr, daß unbestreitbar gemeinsame Merkmale – wie die geistigen Fähigkeiten – als ungleich angenommen wurden, trotz aller das Gegenteil bezeugenden Belege.«.“(4)

Das, worauf hier abgezielt werden soll, ist die Unterscheidung zwischen dem Primären, der Gemeinsamkeit der menschlichen Wesensmerkmale, also dem Gleichenund dem Abgeleiteten bzw. Sekundären, den gesellschaftlich produzierten Ungleichheiten oder Ausdifferenzierungen. Es geht um eine Bewertung der letzteren. Sind sie so wesentlich als Ausflüsse und Ergebnisse ungleicher Existenzbedingungen von Klassenangehörigen in einer Klassengesellschaft, dass sie – diese »Ausdifferenzierungen« oder sekundären, kleinen Verschiedenheiten, die uns so stark trennen können – sich als Legitimation, als Begründungen und Rechtfertigungen der gegebenen und (der Intention der Profiteure nach) fortgesetzten Ungleichheit eignen?

Unbezweifelbar kann die sozialpsychologisch orientierte Forschung in unserer heutigen Gesellschaft Attitüden (Haltungen, attitudes) und Glaubensinhalte (Meinungen, beliefs), die „sozialen Gruppen oder Klassen eigentümlich“ sind, diagnostizieren.(5) 
Unbezweifelbar hat die Soziolinguistik in dieser Gesellschaft keine Schwierigkeiten gehabt, Anzeichen zu finden, an Hand derer man einen „restringierten Code“ bei Sprechern einer Sprache diagnostizieren zu können vermeint, wenn diese Sprecher nur der Arbeiterklasse (oder Schicht, wie man oft zu sagen vorzieht) angehören. Und auch die Frage: Warum unterscheidet sich die Kindererziehung, je nach der Klassenzugehörigkeit der Erziehenden, ist nicht als fehlgeleitet und sinnlos abzutun.(6)

Aber setzen diese sekundären, gesellschaftlich produzierten geringfügigen Unterschiede der Artikulationsweise, der Erziehungsweise, der Haltungen, Meinungen, Werte und Vorurteile, auch der erworbenen praktischen und intellektuellen Fertigkeiten Freuds und Arno Gruens Entdeckung und Hervorhebung der commonality, der Gemeinsamkeit der features, der Wesensmerkmale des Gattungswesens Mensch außer Kraft? Oder ist es vielmehr die letztere Erkenntnis, der wesensmäßig gleichen menschlichen Potentiale, der zur Entfaltung fähigen Wesenskräfte, die aber auch deformierbar sind, unterdrückbar, abstumpfbar, die entmutigt, verletzt, und der Verkümmerung anheim gegeben werden können, die uns davon überzeugen müsste, dass es gilt, nicht den »Ausdifferenzierungen« und der Zunahme der gesellschaftlichen Ungleichheit das Wort zu reden oder in anderer Form an ihrem Fortschreiten mitzuwirken. Sondern im Gegenteil, nach Formen und Wegen einer kompensatorischer Gerechtigkeit zu suchen, welche die diversen Effekte der »Ausdifferenzierung« nicht nur zu reduzieren, sondern umzukehren geeignet wären.(7) Um so die gleiche volle Entfaltung allen Menschen zu ermöglichen. Nicht »Individualisierung«, sondern Individuation: das Entstehen emotional und intellektuell reifer, verantwortungsvoller Persönlichkeiten, die nicht länger die kleinen Besonderheiten ihrer Talente und Vorlieben fetischisieren und marktgängig zur Geltung bringen. 

Vielleicht ist es am ehesten in einem gemeinsamen, solidarischen Handeln, dank darin gewonnener Erfahrungen und auf Grund damit verbundener Lernprozesse möglich, jene menschlichen Wesenskräfte bereits heute wenigstens im Ansatz zur Entfaltung zu bringen, die uns dem Ziel der Individuation, der Existenz freier und reifer Menschen in einer befreiten Gesellschaft, ein Stück weit näher bringen.
 
 
 

Anmerkungen

(1) Siehe Reinhard Kahl, „Der Vorteil, verschieden zu sein“, in: nds/Neue Deutsche Schule, Nr.5/2011, S.17f.. - Erinnern wir uns aber daran, dass  Denker wie Ivan Illich und, auf andere Weise, A.S. Neill, Hartmut van Hentig etc. die Pädagogik – als eine Disziplinierung, also Einübung in Anpassung an institutionelle Erfordernisse und an eine institutionelle Logik  betreibende Disziplin –  mit Recht ebenso wie die Institution, in der allein sie zur Geltung kommt,  kritisiert haben. (Vgl. vor allem: I. Illich, De-schooling Society).
(2) Es ist bekannt, dass in unserer Gesellschaft zu der Ausdifferenzierung der Beschäftigten nach Position und Gehalt genau hiervon abgeleitete Vorstellungen von Status sowie mit diesen Status-Vorstellungen  korrespondierende Praktiken hinzutreten.
(3) Siehe hierzu auch:  Lucien Goldmann, Lukacs et Heidegger, Paris (Denoël/Gonthier, Reihe: Médiations) 1973, S.140-144)
(4) Das Originalzitat lautet: „Freud in his 1917 essay, ‘The Taboo of Virginity,’ wrote: ‘It is precisely the minor differences in people who are otherwise alike that form the basis of feelings of strangeness and of hostility between them.’ Why, Ignatieff asks, can brothers hate one another with greater passion than they hate strangers? Why do men and women always emphasize the differences between them? ‘Men share a common genetic inheritance with women, down to a chomosome or two, and yet it is difference rather than commonality that has always been salient, so much so that undeniably common features - such as mental capacity - have been construed as unequal, notwithstanding all evidence to the contrary.’" Arno Gruen,  “The Need to Punish. The Political Consequences of Identifying with the Aggressor.” (Translated by Hildegarde and Hunter Hannum.) Presented at Martti Siirala's 80th Birthday Seminar, 30th November 2002, Helsinki, Finlandia Hall [Rückübersetzung von mir, XY
(5)  Michael Argyll, The Psychology of Social Class, London (Routledge) 1994, S.4
(6) Ebenda, S.2
(7) Für das Konzept der kompensatorischen Gerechtigkeit und ein Verständnis der aktuellen Bedeutung dieses Konzepts bin ich Gesprächen mit J. Weidenfels sowie Jo Jankowicz und – wie diese – vor allem Juan Rodriguez-Lores zu Dank verpflichtet.
 
 
 
 
 

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