DREIHUNDERT BÄUME
„Brüderlich, wie ein Wald...“
(Nazim Hikmet)
Dreihundert Bäume –
was sind dreihundert Bäume, wenn nicht
ein Hindernis?
Ein Hindernis, sagst du,
doch für was?
Die Kanzlerin sagt, für den Fortschritt
Die Nachhaltigkeit, des Fortschritts!
ruft sie aus
und denkt an schnelle Züge
Die ZUKUNFT DES LANDES
ruft sie aus
und denkt an Großprojekte
Die Demokratie, ruft sie aus
Der repräsentative Prozeß
Entscheidungen, die fielen
und die jetzt
bedroht sind vom Protest von unten
Sie sieht nicht Demokratie am Werk
WENN ZEHNTAUSENDE
VON MENSCHEN EINER STADT –
NORMALE LEUTE, RENTNER
HAUSFRAUN, IHRE KINDER, EHEGATTEN –
AUF DIE STRASSE GEHN
Die Kräfte der Ordnung,
die demokratischen Institutionen
SIND BEDROHT!
Also schickten sie die Polizei
Gekarrt nach STUTTGART von überall im Land
Bundespolizei, nordwestliche & südwestliche Kräfte
kamen in den Südwesten
und mit Schlagstöcken, Tränengas und Pfefferspray
schlugen sie die Alten
Frauen in den besten Jahren
und ihre schulpflichtigen Kinder
In der Kälte des Morgens durchnäßten
Wasserkanonen sie bis auf die Haut
Aus nächster Nähe
warfen sie Pfeffer
in ihre brennenden Augen
Wie zerrten sie die Menschen
weg von den Bäumen?
MIT WELCHER KRAFT –
WELCHER GEWALT?
Aber die Bäume, die die Menschen zu schützen versuchten
sind bloß zwei Jahrhunderte alt
GEPFLANZT IM GARTEN DES KÖNIGS
Sie überlebten den letzten großen Krieg
Kälte & Elend
in dem Jahr das folgte
als die Leute scharf war’n auf Brennholz
Jetzt hat man die ersten gefällt.
Die Verletzten sind im Krankenhaus.
Die Friedfertigen werden ermahnt
von der Kanzlerin
friedlich zu bleiben.
Der Fortschritt geht weiter, sagen sie uns
Und die demokratische Polizei
einer Demokratie die nicht länger hört
auf das Volk
hat ihr wahres Gesicht gezeigt:
DAS ALTE –
ES IST MINDESTENS SO ALT
WIE DIESE DREI HUNDERT BÄUME
2
Keine Julia saß oben in den Bäumen –
Kein Autor von Weltruf
kampierte in ihrem Schatten –
mit den jungen Leuten
und ihren Großvätern
als der Mob kam – nein, die Polizei
Und sie kommen immer im Dunkeln
nuit et bruillard…
So wenig
hat sich geändert, in all den Jahren…
Der Tanz der Schlagstöcke ward getanzt
als sie die Zelte niederrissen!
Tränengas schleuderten!
Die Schläuche der Wasserwagen richteten sie
auf schläfrige Menschen!
Es war vorbei, eh es begann
behaupten die Zeitungen
Johlen und spotten und sprechen von
“sogenannten Beschützern der Bäume”.
EINEN VERWUNDETEN, ERFUHR ICH HEUTE
ließen sie da, die Gewalttäter
für jeden der dreihundert bedrohten Bäume
Im Gefängnis jetzt, einige Dutzend –
Die jüngste davon:
Ein Teenager, fünfzehn Jahr –
Der älteste, gerade achtundsechzig.
Ich weiß, man wird sie Verbreiter von Chaos nennen:
sie die friedlich schliefen
unter den Bäumen.
Sie sind gerad’ so chaotisch
wie die Bäume.
So viele von ihnen trotzen noch immer der Order
Klammern sich fest mit den Wurzeln
im geröteten Boden
3
WAS SIND DREIHUNDERT BÄUME WERT
IM ZENTRUM EINER GROSS-STADT
EINGEPFERCHT
ZWISCHEN HOHEN HÜGELN?
Wer gibt schon was für Wege... Korridore...
die Routen öffnen für den Wind?
Wer will frische Luft in einer belasteten Stadt?
WER MÖCHTE GRÜN?
War’s in Berkeley in den sechziger Jahren
wo sie kämpften zum Schutz des Grüns?
DIE GRÜNE FLAGGE HISSTEN
NEBEN DER SCHWARZEN UND ROTEN
UND DEUTLICH ÜBER UNION JACKS
STAR SPANGLED BANNERS
UND ANDEREM UNSINN
Die Anarchie, für die Dichter sich damals erwärmten
war einfach Liebe zur Freiheit –
Sehnsucht, die allen Menschen gemeinsam ist…
Kämpfe für Parks kann man verlieren oder gewinnen
Aber die Sehnsucht der Menschen
Ihre wahrste verborgene Sehnsucht: hilf,
sie an’s Licht zu bringen, Dichter!
Hilf den Vergeßlichen, den Ängstlichen, den Gezähmten
Und verleih den Wachen eine Stimme!
Heute, in Stuttgart, ist Berkeley wieder lebendig:
Wasserwerfer wuschen Omas vom Asphalt.
ABER EINE ALTE GROSSMUTTER
NIMMT KEIN BLATT VOR DEN MUND:
Ich bin schon über siebzig, sagt sie
Doch nachdem ICH SAH WAS SIE TATEN
UM DURCHZUKOMMEN
MIT SCHAMLOSER SPEKULATION,
NEM GROSSEN INNENSTÄDTISCHEN
IMMOBILIENDEAL,
spür ich Gefühle in mir
die gar nicht mehr so friedlich sind
und will Rache
Wie sehr ich dich versteh, Großmutter!
Aber unsre Stärke ist unsre Zahl!
Entschlossenheit! Friedlicher Protest!
Und wir werden’s ihnen zeigen
am Ende –
all den Große, die denken, daß sie uns
herumschubsen können
Wir werden sie entmachten –
Der Demokratie wegen
1.Okt. 2010
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