DER PAUKENSCHLAG, DER DIE TASSEN
ZUM KLIRREN BRINGT
Die spanischen Zeitungen berichten intensiv über
die Straßenproteste. Nein, es sind keine Straßenproteste, es
sind Straßenversammlungen, auf denen debattiert und abgestimmt wird.
Ein Kritiker der Versammlungen hat als Kommentar auf der
Internetseite einer der Zeitungen geschrieben: Diese jungen Leute
wollen ein System wie in Kuba und leben wie in Amerika.
Er irrt gleich dreifach.
Auch wenn wir viele junge Leute auf den Straßen
und Plätzen sehen, so entdecken wir doch ebenfalls nicht wenige Menschen
mittleren Alters und alte Menschen, die sich aktiv engagieren.
Ähnlich wie im August, September, Oktober 2010 in
Stuttgart, wo auf dem vorläufigen Höhepunkt der dortigen
Demokratiebewegung an die 150.000 Menschen ihren Willen, gehört zu
werden, artikulierten.
Es ist also ganz falsch, zu suggerieren, es handle sich
hier bloß um eine Bewegung der Jugend.
Zweitens: Sie, die da auf den Plätzen ihre Sorgen
und Beschwerden und ihre Empörung artikulieren, die über Fragen
debattieren, welche uns alle bewegen müssten, wollen nicht mehr
Macht für Parteien oder gar für eine Partei
oder ein Zentralkomitee. Sie misstrauen Parteien und Politikern.
Sie wollen mehr demokratische Kontrolle und Beteiligung
für die Bevölkerung. Weniger Möglichkeiten der politischen
Klasse, zu lügen und zu betrügen, zu manipulieren und unkontrolliert
zu regieren.
Die Bevölkerung, sagen sie, sollte demokratische
Möglichkeiten erhalten, Entscheidungen zu treffen zu konkreten Fragen,
die sie betreffen. Und zwar – theoretisch – jeden Tag, in den 4 Jahren
zwischen den Wahlen. Wahlen, bei denen die Politiker alles versprechen,
um hernach nichts oder fast nichts zu halten.
Wo bleibt die Parallele zu Kuba und der starken Rolle
der KP sowie der Parteiführung in jenem Land?
Drittens: Leben wie in Amerika? – Nicht wenige, gerade
unter den jungen Leuten, wollen in der Tat ein glückliches, freies
Leben für alle. Aber das ist nicht dasselbe wie ein „reiches“ Leben,
eines im Luxus. Sie wissen übrigens zu genau, daß der
„amerikanische Traum“ eine Illusion ist. Daß in den USA die Arbeitslosigkeit,
deren Rate von der Statistik geschönt wird, bei real über 20
Prozent im Durchschnitt liegt und daß die amerikanische Regierung
gezwungen ist, food insecurity (Nahrungsmittelunsicherheit)
– also Hunger – bei über 30 Millionen Amerikanern einzuräumen.
Sie wissen ebenfalls, daß unser „amerikanischer“ Weg der Ressourcenverschwendung
und der Kurzsichtigkeit der Konzerne und Politiker in die ökologische
und soziale Katastrophe führt, daß der Konsumismus in die Katastrophe
führt.
Der „amerikanische Traum“ ist mörderisch; in den
US-amerikanischen Gefängnissen sind so viele Menschen (relativ zur
Einwohnerzahl ebenso wie absolut) eingesperrt wie in keinem anderen „hochentwickelten“
Land; die Rüstungsausgaben liegen bei real 700 Milliarden Dollar pro
Jahr, und das Land führt einen Krieg nach dem anderen in der Welt,
um seine verfallende Macht zu sichern – nicht die Macht der normalen Amerikaner,
sondern die einer Oligarchie, einer Plutokratie, einer kleinen Schicht
von Profiteuren einer Maschinerie, die wie ein riesiger Staubsauger den
Reichtum der Welt nach oben saugt, während die Masse auch der Amerikaner
mit immer härteren Lebensumständen kämpft.
Die Krise ist längst die Krise eines Kapitalüberflusses
oben, und die Sachwalter dieses Kapitals wissen nicht mehr, wo man diesen
ganzen Überfluß gewinnbringend anlegen kann, außer
- in der commodity speculation, also auf
den Rohstoffmärkten (z.B. Kupfer);
- an den Warenterminbörsen für Weizen und andere
Nahrungsmittel;
- in der Immobilienspekulation;
- in beträchtlichen Landkäufen, vor allem in
der sogenannten Dritten Welt; und nicht zuletzt nach wie vor in der
- Währungsspekulation.
Die Produktion der nützlichen Dinge braucht immer
weniger zusätzliches Kapital, weil die Masse der Menschen gezwungen
ist, den Gürtel ständig enger zu schnallen.
Nein: Leben wie in Amerika ist nicht der Traum dieser
Menschen, die nach Veränderung verlangen. Sondern das Recht, nach
Lösungen zu suchen, für die Krise, unter der wir alle leiden.
Lösungen, die nicht den Banken und Finanzinvestoren
neue Milliarden (und zwar hunderte!), verbürgt vom Staat, verschaffen,
damit sie weiter spekulieren.
Sondern Antworten, die den Dingen auf den Grund gehen.
Die Probleme nicht verschleiern. Die Lösungen nicht
verschieben. Die wieder das Gemeinwohl in den Blick bekommen.
Die politische Klasse ist heute eine Klasse von Pragmatikern.
Und ihre Pragmatik besteht darin, die Suche nach Lösungen aufzuschieben,
um den wirtschaftlich Mächtigen nicht weh zu tun.
Es ist klar, daß jede Bewegung der theoretischen
Kritik und der praktischen Intervention mit der Infragestellung dieser
Symbiose und Kollaboration zwischen den politischen Parteien sowie Institutionen
und der „Wirtschaft“ – also den wirtschaftlich Mächtigen – beginnen
muß.
Die Bewegung für mehr Demokratie heute ist nicht
umsonst eine für mehr Transparenz in der Politik und für neue,
politisch und verfassungsrechtlich gesicherte, praktische Möglichkeiten
der Bevölkerung, auch zwischen den Wahlen ihren Willen demokratisch
zu artikulieren.
Wobei Referenden, bei denen die politische Klasse die
zur Abstimmung vorgelegten Alternativen definiert und die Macht der Formulierung
dieser Alternativen behält, wertlos sind.
Ohnehin ist jede Volksbefragung und jede Wahl von zweifelhaftem
Wert, die den Bürgern nicht gestattet, über klar definierte,
alternative Lösungsvorschläge, die auf inhaltlich klar umrissene
Probleme Antworten zu geben suchen, abzustimmen. Und zwar nach Phasen
der Reflexion und nach vorgeschalteten, öffentlichen, dezentral in
den Stadtteilen und auf den Dörfern stattfindenden Deliberationsprozessen,
an denen jeder Einwohner teilnehmen kann.
Das „blinde“ Wählen, und die in der Waschmittelreklame
ihr Vorbild findenden Wahlkämpfe tragen nicht bei zu einer demokratischen
Teilhabe der Bevölkerung; sie reduzieren diese Teilhabe auf ein „Als
ob“.
Dagegen muß sich jede Demokratiebewegung richten.
Dagegen wenden sich die Protagonisten der Reale Demokratie,
JA! Bewegung in Spanien. Es ist klar, daß das ein Echo haben wird
in EUROPA.
ALLES, WAS EINER DEMOKRATIEBEWEGUNG AUFTRIEB UND ELAN
GEBEN MUSS, IST LÄNGST VORHANDEN: DER BEDARF, DER WUNSCH NACH VERÄNDERUNG,
DAS BEWUSSTSEIN IN DER BEVÖLKERUNG, DASS SIE NUR SCHEINHAFT BETEILIGT,
DASS SIE NICHT WIRKLICH GEHÖRT WIRD. UND DIE TATSACHE, DASS IHRE WORTMELDUNG
AUCH GAR NICHT ERWÜNSCHT IST, WIRD DIESE WORTMELDUNG NUR DESTO HEFTIGER
AUSFALLEN LASSEN.
Worauf warten wir? AUF DEN PAUKENSCHLAG, DER DIE TASSEN
ZUM KLIRREN BRINGT?
2.Juni 2011
Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
Check: http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
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