Joan Chen, Rainer Ross, Romualdo Rivera, 
J. Weidenfels, Karen Wittstock

Warum Menschen am 15. Oktober 2011 weltweit auf die Straße gingen

“Man muss kämpfen, weil es Menschen gibt, die leiden und die auf uns zählen“, sagte neulich der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, vermutlich in Frankfurt, wo er soeben den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Ja, es geht um friedlichen Kampf, für Rechte, die den sogenannten einfachen Menschen, den normalen Bürgern, zustehen und die ihnen vorenthalten werden. Zuallererst um das Recht auf faktische demokratische Teilhabe (statt einer fiktiven). Und gleichbedeutend damit, um das Recht auf ein Leben in Würde. Was auch bedeutet, dass es allen möglich sein sollte, zu leben, ohne einem elementaren Mangel ausgesetzt zu sein. Also einer Armut, die vermeidbar ist, die nicht beruht auf einer Knappheit der Dinge, sondern auf einer irrationalen Allokation. 

Was Boualem Sansals Einsatz für demokratische Rechte angeht, so kann man davon ausgehen, dass die deutschen Preisverleiher und mehr noch, die meinungspolitisch vorherrschenden Medien in Deutschland den nordafrikanischen Kontext im Auge haben: jenen Kontext, der heute geprägt ist von den Kämpfen der Bevölkerung in Tunesien und in Ägypten für eine Demokratie, deren Inhalt sie noch definieren müssen. Es geschieht noch zu selten, in den Medien, dass man die Frage nach den Defiziten der eigenen Demokratie stellt. Wie sagte doch Boualem Sansal? Der Mensch hat Schwierigkeiten mit der Wahrheit.
 

Das gilt übrigens auch für jene vielen, die von den Medien informiert zu werden glauben, in gewissem Maße. In Deutschland ist der Anteil jener normalen Durchschnittsbürger (falls es denn anders als statistisch einen solchen Typus gibt) beträchtlich, der bei Umfragen wie bei Wahlen immer wieder einer der beiden großen Parteien seine Stimme gibt. In den USA ist es übrigens genauso. Der besagte statistische Bevölkerungs-Ausschnítt repräsentiert mehrheitlich die sogenannte „Mitte“ – oder die „schweigende Mehrheit“. So jedenfalls sehen das offenbar die Meinungsmacher in den Medien, auch die in diesen Medien immer wieder zu Wort kommenden, etablierten Politiker. Wie soll man von dem sprichwörtlichen Angehörigen der Mitte (oder gar einer „middle class“, wie es in den USA gern dargestellt wird) aber annehmen, und mithin diesem fiktiv angenommenen „Durchschnittsbürger“ glauben, dass er genau der ist, der „Politikern nicht vertraut“? Dass er, wie alle repräsentativen Umfragen, in den USA wie in Deutschland, zeigen, der ist, der die politischen Eliten für „Selbstbediener“ hält, die mit den Repräsentanten und den Eigentümern der Konzerne  unter einem Hut stecken? Und dass er derjenige ist, der immer wieder angesichts der Entscheidungen einer politischen Klasse, von der er sich im konkreten Fall nicht repräsentiert, sondern über den Löffel barbiert fühlt, vor sich hinmurmelt, „da kann man nichts machen; wir können nichts machen; die machen ja doch, was sie wollen“?

Die Diskrepanz zwischen affirmativem, das heißt, die Eliten bestätigendem Verhalten (bei Wahlen) und der Enttäuschung über sie, über die Parteien, ja, auch über die Demokratie, „so, wie sie funktioniert“, ist groß. Und der Abgrund, der sich da auftut, scheint derzeit – in vielleicht der schärfsten Krise seit den 1930er Jahren – sich immer weiter zu öffnen. Warum aber klappt die Verdrängung der Tatsache dennoch bei so vielen, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt? Warum funktioniert jenes widersprüchliche, Misstrauen und Affirmation unter einen „Hut“ bringende Verhaltensschema? Ist es die Sehnsucht nach Sicherheit, einer längst nicht mehr gegebenen, übrigens, die dahinter steht? Ist es vielleicht die Hoffnung auf den Heilsbringer, das Setzen auf den Papa, den starken Mann, als Folge eines beschädigten Selbstvertrauens? Ist es Müdigkeit, Überlastung? Die Vereinzelung, die Atomisierung der Gesellschaft, das fehlende Vertrauen in Kollegen, Nachbarn, Gleiche; geschürt, bestätigt, vertieft von den Erfahrungen der Konkurrenz, von der Verschlechterung des Betriebsklimas am Arbeitsplatz, wo plötzlich jeder im stillen zu denken scheint: „Rette sich, wer kann –  den eigenen Job“? Trägt vieles dazu bei, dass sie immer noch virulent ist, in nicht wenigen:  diese Erwartung, dass „Andere“ (zumeist: die Politiker) die Entscheidungen treffen werden, welche dann vielleicht alles „bessern“ könnten? Sodass man der „ Politik“, der politischen Klasse, zwar misstraut, aber sie dennoch – sofern man noch wählen geht – immer wieder ängstlich, skeptisch, auf Enttäuschungen gefasst, zum Strohhalm der kleinen Hoffnung macht. Einem Strohhalm,  nach dem man, wie ein Junkie, bei jeder Wahl greift, wünschend, auch als Wechselwähler, es möge dieses Mal etwas bringen. Ja, man hofft, ohne mehr dafür zu tun als noch wählen zu gehen, auf eine Verbesserung der eigenen Lage. Oder wenigstens, als hoffender Pessimist, auf keine weitere, noch kommende Verschlechterung. Die dann – natürlich, möchte man fast sagen – aber kommt, weil regierende Politiker von sich sagen werden, dass sie doch keine Populisten sind. Dass sie „natürlich“, weil es „alternativlos“ ist, der Masse der Bevölkerung bittere Medizin verordnen müssen. Ihr ein Abspecken zumuten, also auf dem Immer-Enger-Schnallen des Gürtels der „Anderen“ (nämlich „Unteren“) bestehen müssen. Warum? „Damit die Wirtschaft sich erholt.“ „Damit es sich wieder lohnt, zu investieren“ Damit die Dynamik der Umverteilung von unten nach oben sich ungebrochen fortsetzt, sofern es keinen „Kladderadatsch“ gibt, der alle vielleicht in die Tiefe reißt.

Boualem Sansal hat schon recht. Autoren mögen Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit haben. Politiker haben Schwierigkeiten, sie auszusprechen. Es ist nicht opportun. Es ist taktisch unklug. Es enthüllt nur fragwürdige Bindungen in ihrer Fragwürdigkeit, partikuläre Interessen als das was sie sind, wo man es als Teil der politischen Klasse darauf anlegen muss, das Gemeinwohl zu beschwören, das man so selten im Auge hat. Was die Masse der Bevölkerung angeht, so scheint ein erheblicher Teil Schwierigkeiten damit zu haben, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie selbst zu bedenken, selbst zu entdecken, was ist und was sein könnte und vielleicht sein sollte. All das Fehlende, das Verweigerte, und das Unrechte beim Namen zu nennen.  Wenn es ein Autor, alle Risiken auf sich nehmend, versucht, tut er es dann nicht, um ein Beispiel zu geben:  ein anderes als es die Konformisten und Opportunisten uns geben? Ein Beispiel, das darin besteht, furchtlos die Nacktheit des Kaisers, der nackt ist, zu malen – was doch heißt, das Skandalöse zu zeigen und es zu benennen?

Die „politischen Eliten“ hierzulande und ihre vergleichsweise gut honorierten Zuarbeiter und willigen Helfer haben in diesem Jahr, 2011, zögerlich zwar – und wohl nur verbal, so vermuten manche – sich endlich unter dem Druck der ohnehin sich vollziehenden Veränderung entschlossen, die Skandale und die Defizite der ägyptischen Militärherrschaft unter dem vor kurzem noch hofierten Präsidenten Mubarak als solche anzuerkennen. Während sie zuvor doch viele Jahre den falschen Schein der ägyptischen „Demokratie“, der Wahlen, der zugelassenen Parteien beglaubigten! Ob die in Bewegung geratenden Verhältnisse in Europa und Nordamerika sie wohl auch dahin bringen werden, die gewiss anders gearteten, in manchem aber mit der ägyptischen Situation vergleichbaren demokratischen Defizite in den eigenen Ländern anzuerkennen?  Sie werden es – so steht zu befürchten – vermutlich nicht tun, sondern sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Denn es geht um ihre Macht. Eine Macht, die ihnen formal nur vom „Volk“ auf Zeit geliehen ist, mit der Maßgabe, den Interessen und Bedürfnissen der Masse der Menschen primär (!) verpflichtet zu sein und zu bleiben –  die sie aber realiter ausüben „nach Gutsherrenart“.

Die Krise, die eine multiple ist, deren ökologische Dimension in Gestalt des Klimawandels, aber auch der Problematik der Umweltverseuchung durch Pestizide und industrielle sowie der Motorisierung geschuldete Dimensionen, um nur diese Aspekte zu nennen (es gibt weit mehr), die Mehrzahl der Menschen im Lande beunruhigt, greift andererseits am direktesten, fühlbarsten angesichts ihrer gesellschaftlichen, politökonomischen Dimensionen in das Leben der Vielen ein. Wie in Nordamerika hat sich auch in Europa, auch in Deutschland, der Druck, der auf den Einzelnen lastet, erhöht. Die Zahl der psychisch Kranken, die an Angststörungen oder Depressionen leiden, ist enorm gestiegen. Armut, ja Verelendung – in den 1960er Jahren von den meisten Soziologen als eine in „den Industrieländern“ des Westens längst nicht mehr gegebene Angelegenheit der Vergangenheit betrachtet –  haben ein neues, seit langem so nicht gekanntes Ausmaß angenommen. Die Schere zwischen arm und reich hat sich in den letzten 20 Jahren auch in Deutschland eklatant geöffnet. Es handelt sich offensichtlich um eine weltweite Tendenz. Zwar wächst in den sogenannten Schwellenländern eine neue, ein wenig wohlhabende „mittlere Klasse“ heran, die zwischen den alten, traditionell Macht und Reichtum monopolisierenden „Eliten“ und der überwältigenden Masse der Armen aufblüht und um ihren Anteil an der politischen Macht und um stärkeren  gesellschaftlichen Einfluss ringt. Aber alle drei Minuten verhungert – so sagt es eine monströse Statistik – auf unsrem Planeten ein Mensch. In den „alten Industrieländern“ gerät sogar jenes Segment der Bevölkerung, dass sich – ob auf eigene Rechnung arbeitend oder, was weit häufiger der Fall ist, für Gehalt oder einst guten Lohn – einer „Mittelklasse“ zugerechnet sah und dieser auch selbst zurechnete, unter Druck. Und es erfährt Verunsicherung, Zukunftsängste, reale Unsicherheit der eigenen Stellung, nicht selten auch einen Einkommensverlust. Der Schwerpunkt der Akkumulation des gesellschaftlichen „Reichtums“ (ob angelegt in Form von Aktien, Staatspapieren, Immobilienbesitz oder thesauriert in dieser oder jener Form) hat sich schon seit längerem „ganz nach oben“ verschoben, zum obersten einen Prozent der Bevölkerung, wenn nicht zum Bruchteil eines Prozents. Die Beeinträchtigung der Lage der breiten Mehrheit in den besagten „alten Industrieländern“ sowie an deren Peripherie – etwa in Europa – geht aber weit über das hinaus, was die sogenannte „Mittelklasse“ in den letzten Jahren an Verschlechterung erlebt.

Portugal ist ein Niedriglohnland, in dem die Bevölkerungsmehrheit – wie in Griechenland – einer bittere Armut in Elend verwandelnden Politik ausgesetzt ist, während das Top-Management mit die höchsten Gehälter und Boni in Europa einstreicht. In Polen leben heute drei Fünftel der Bevölkerung mittlerweile an oder unter der Armutsgrenze. Von Boom-Phasen der Wirtschaft profitieren einige Geschäftsleute sowie die crème de la crème der politischen Klasse. In Nordostpolen kommen viele Kinder, ohne ein Frühstück gehabt zu haben, in die Schule und bringen vom Schulfrühstück etwas nach Hause mit, damit die Geschwister essen können. Kranke ohne Geld und Versicherungsschutz müssen erleben, dass sie  in Warschauer Krankenhäusern nicht behandelt werden. Die Zahl der Menschen in der Stadt, die nach Verlust der Arbeit obdachlos geworden sind, ist erheblich.

Aber das Problem besteht ja ganz ähnlich in London oder in Madrid, wo der konservative Bürgermeister sich für ein neues, an das Franco-Gesetz gegen „Herumstrolcher und Hausierer“ erinnerndes Gesetz stark macht, das erlauben würde, die auf der Straße Schlafenden – viele davon Arbeiter, die ihre Stelle verloren – aus der Stadt zu vertreiben. In San Jose, Kalifornien, wird genau das schon praktiziert. Und im Großraum Los Angeles gibt es mindestens eine Gemeinde, die von unter Brücken Schlafenden ein Bußgeld verlangt, das den Obdachlosen erlauben würde, für den gleichen Preis in einem erstklassigen Hotel zu übernachten. 

Die sogenannte Dritte Welt hat die Erste eingeholt. Menschen schlafen nicht mehr nur nachts in Sao Paulo auf den Strassen.  Es geht manchmal schnell mit dem Absturz in die extreme Armut und die Obdachlosigkeit. Aber die Wohlhabenden, die Reichen und Superreichen möchten die Armut nicht sehen. Sie fühlen sich belästigt von Bettlern. Der Anblick der Armen erscheint ihnen nicht als besonders ästhetisch. Auch sie möchten verdrängen, möchten nicht sehen, dass es solche Armut ist, die ihre wirtschaftliche Aktivität produziert. Vielleicht haben sie Angst vor einer Ansteckung, einer metaphorischen oder einer realen. Unter den Armen, die im Winter draußen schlafen und die sich keine Behandlung mehr leisten können, nimmt weltweit eine nicht oder kaum noch kurierbare, gegen die bekannten Antibiotika resistente Form der Tuberkulose zu. Es ist wahr, mit dem immer mehr Menschen – auch in Europa und Nordamerika – heimsuchenden Hunger hat auch die Kälte Einzug gehalten: die soziale der Behörden, der Bosse, der Politiker und die nicht-metaphorische, die in Celsius und Fahrenheit messbare. Die Armen – einst von minderwertiger, billiger fast food zu dick geworden, sehen zunehmend hager und ausgezehrt aus. Die Zahl derer, denen sichtbar Zähne fehlen, die in verschlissener Kleidung und kaputten Schuhen herumlaufen, steigt. Es trifft die wohnungslos Gewordenen, die Arbeitslosen und Millionen, die für einen Hungerlohn arbeiten „dürfen“. Man kann in Deutschland bei den hiesigen Preisen und Mieten mit sieben Euro fünfzig brutto, die man als Leiharbeiter verdient, seine Familie nicht durchbringen. Viele, die ein Zuhause haben, heizen nicht mehr, selbst im richtigen Winter. Man wird nicht alt werden, so. Die Obdachlosen wissen das schon längst.

In den USA – so wurde Anfang 2007 in der New York Times berichtet – verfügte im Jahr vor Ausbruch der Finanzkrise und der davon ausgelösten realwirtschaftlichen Krise das oberste 1 Prozent der Amerikaner in der Summe über ein Haushaltseinkommen, das in etwa dem Gesamteinkommen der unteren 50 Prozent der US-Haushalte entsprach, d.h. nur geringfügig darunter lag. Etwa 150 Millionen Menschen mussten also ungefähr mit der Einkommenssumme über die Runden kommen, die – auf der anderen Seite der Einkommens-Skala –  rund 300.000 Menschen zur Verfügung stand. Diese Einkommens-Ungleichheit besagt aber weit weniger über das Ausmaß der tatsächlichen Ungleichheit als die Unterschiede bezüglich des Eigentums, besonders des direkt oder indirekt (in Form von Aktien usw.) gehaltenen Besitzes von Banken und anderen Wirtschaftsunternehmen. 

Was die Einkommens-Statistik aber sehr wohl enthüllte, war das Auseinanderdriften von Arm und Reich. Das oberste eine Prozent in den USA bezog im Jahr 2006 im Durchschnitt ein Einkommen, das 440 mal so hoch war wie das Durchschnittseinkommen der unteren 50 Prozent der Bevölkerung.  1980 war das Durchschnittseinkommen nur ca. 250 mal höher gewesen; der Einkommensabstand hatte sich – wohl nicht nur wegen des Anstiegs der Rendite von Investitionen im Finanz- und Immobilienbereich, sondern auch wegen des Lohnabbaus bei der Masse der Menschen mit vergleichsweise gering eingestuften Qualifikationen – in den letzten Jahrzehnten in etwa verdoppelt.

Wir machen uns etwas vor, wenn wir angesichts der starken Zunahme von Leiharbeit, von Teilzeitarbeit und von relativ schlecht entlohnter, oft befristeter Vollzeitarbeit annehmen, die Schere zwischen den wenigen Beziehern sehr hoher Einkommen und den unteren 50 Prozent der Gesellschaft habe sich in Deutschland nicht drastisch geöffnet, auch wenn die Entwicklung in den USA um einiges dramatischer sein mag.

Die wirtschaftliche Entwicklung wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung als besorgniserregend, wenn nicht angstmachend empfunden. Der zunehmende Druck auf die Masse der Beschäftigten – übrigens mit Einschluss der mittleren (middle management) Positionen, die den Druck  nur weitergeben – wird existentiell erlebt. Gewerkschaftsvertreter wiesen Politik und Unternehmer übrigens vor kurzem darauf hin, dass dieser Druck auf Sicht krank macht. Ein Faktum, auf das von ärztlicher Seite schon länger hingewiesen wurde, dass aber sozialpsychologisch betrachtet voraussagbar war. 

Was die Menschen im Lande in ihrer Mehrheit – obwohl sie ganz offensichtlich wissen, dass  es Ungleichheit gibt – bislang nicht oder nur vage zur Kenntnis nehmen, das ist der Grad der Ungleichheit und das skandalöse Ausmaß ihrer Zunahme –  vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten. Man ahnt das vielleicht. Aber man erfährt wenig Präzises – auch weil die Reichtumsforschung von der Politik und Wirtschaft letztlich nicht gewollt und deshalb vernachlässigt und unterfinanziert ist. 

Der Wahrheit ins Auge zu sehen würde bedeuten, dass die Mehrheit diesen Skandal bewusst registriert, dass sie ihn benennt, dass sie Veränderung fordert und aktiv für Veränderung eintritt.

Davon ist sowohl in den USA wie in Deutschland noch viel zu wenig zu spüren. Gewiss, es gibt einige aktive Gewerkschafter, die sich engagieren, selbst wenn sie noch in der Minderzahl sind. Viele „Bosse“ von Gewerkschaften neigen ohnehin dazu, nur Sonntagsreden zu halten. Und die Lohnabhängigen wissen das: mehr oder weniger deutlich sprechen es viele auch aus. Aber – das ist das Fatale – eben diese Desillusionierung bezüglich der eigenen Organisationen und ihrer „leader“ lähmt auch die meisten Einzelnen an der Basis. Sie hören, dass Betriebsräte hier und dort eingekauft werden, und auch das trägt dazu bei, dass die Menschen sich „in der Defensive“ sehen.

Heute ist es in Deutschland noch eine Minderheit von Wachen, oft auch von Empörten, die gegen eine Politik, welche die Folgen der Krise auf die Mehrheit abläd und die Reichen ebenso wie die großen Unternehmen schont, auf die Straße gehen. Diese Menschen, die teils in der Krise aktiv wurden, teils es schon lange sind, erscheinen manchen von uns wie das Salz der Erde, wie die Hefe, die aufgeht. In mancher Hinsicht sind sie den Propheten und Philosophen, den Autoren, die wie Boualem Sansal die Wahrheit suchen und auch für die Vielen sichtbar machen wollen, vergleichbar. Kein Zweifel, es gibt Alte darunter – sie haben vielleicht das Gefühl, sie hätten nicht mehr so viel zu verlieren. Aber dennoch: in Stuttgart verlor einer von ihnen, ein friedlicher Mittsechzigjähriger, am Rande einer Demonstration durch Polizeigewalt sein Augenlicht. Was die jungen Leute angeht, so ist es der Mut der Jugend, der sie beflügelt. Welche „Karrieren“, welche beruflichen Aussichten  eröffnen sich ihnen denn, in der Krise, der Serie der Krisen, die sie erlebten? Aber was wird es für sie, in Zukunft, bedeuten, wenn sie – etwa auf der Brooklyn Brücke in New York – von der Polizei trickreich vom Fußgängerüberweg abgedrängt und auf die Fahrbahn gelenkt werden, damit man sie verhaften, damit man an rund 700 von ihnen ein Exempel statuieren kann? Die Verhaftung, das In-Polizeigewahrsam-Genommen-Werden, bedeutet in der Regel, dass man fotografiert wird (mug shot, nennt man es in den USA).  Und dass die Fingerabdrücke genommen werden. Der Staat vergisst nichts. Gibt er auch Informationen an Universitäten und Konzerne weiter? Gut möglich. Das Leben wird dadurch, dass man sich engagiert, nicht leichter. Die sich wehren gegen das Unrecht, zahlen einen Preis. Viele von ihnen wissen das. Sie sehen der Wahrheit der Verhältnisse ins Auge; sie haben irgendwann keine Illusionen mehr, dass die Macht es ernst meint mit dem Demonstrationsrecht, mit der Meinungsfreiheit und noch einigem mehr. Es sind widerwillig zugestandene Rechte; sie werden beschnitten, sie werden sabotiert. Die Menschen, die in den USA in der Friedensbewegung, in der Bürgerrechtsbewegung aktiv waren, wissen das. Und viele engagierte Gewerkschafter mussten es ebenfalls erfahren. Und alle  oder doch viele wissen oder ahnen, dass die Staatsmacht auch zu schmutzigen Tricks greift. Nicht nur „Tricky Dick“ Nixon. Alle – mehr oder weniger, die die Staatsräson und die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen vor das demokratische Fair play stellen. Es zwingt die friedlich für ihre Rechte – und die verweigerten Rechte der Mehrheit, die sich noch nicht bewegt – Eintretenden, einen kühlen Kopf zu behalten in den Auseinandersetzungen, zu denen es immer wieder kommt, wenn Menschen demonstrieren: ob in Selma, Alabama, in New York, oder in Barcelona, Madrid, Frankfurt und Rom.

Übrigens, an den dezentralen Demonstrationen gegen die Macht der Banken und für mehr Demokratie nahmen in Deutschland am 15. Oktober etwa 40.000 Menschen teil – eine Zahl, welche die Polizei, wie sie das bei solcher Gelegenheit immer tut –  natürlich herunterredet. Aber seht nach Italien, seht nach Griechenland! In Rom, heißt es, gingen 200.000 Menschen auf die Straße. Fast alle demonstrierten friedlich. Nur einige angesichts der elenden Situation vieler junger Menschen wirklich  wütende Jugendliche, vielleicht (wenn nicht sogar ganz sicher) angeheizt von Provokateuren des Staates, steckten einen Polizeiwagen und womöglich noch einige weitere Autos in Brand und zertrümmerten – ziemlich sinnlos – die Scheiben von Geschäften. Man versteht ihren Zorn. Man wundert sich, dass die römische Polizei, sonst für ihr hartes Vorgehen bekannt, so schwach präsent war, obwohl man über diesen „schwarzen Block“ im Bilde sein musste. Jetzt hat die rechte Regierung ihren Vorwand und macht überall im Land Razzien in den mannigfaltigen Milieus der Linken. Welch „demokratische“ Antwort – die den Regierenden und den ihnen nahestehenden Medien die Auseinandersetzung mit 200.000  Kritikern auf den Strassen Roms erspart.

Wiederholen wir also – im Interesse der Wahrheit – die Botschaft derer, die in Europa, in Nordamerika, aber auch in vielen Städten der anderen Kontinente am 15. Oktober auf die Strasse gingen:

Erstens: Die Krise stürzt Millionen Menschen (weltweit sind es Hunderte von Millionen) ins Elend, während die Reichen reicher werden, während die spekulierenden Banken –  mit Staatsgeldern gerettet –  weitermachen wie bisher, und die übrigen großen international tätigen Konzerne kaum noch Steuern zahlen, Arbeitsplätze abbauen, festhalten am Prinzip, ihre Rendite zu erhöhen um jeden Preis. Diese Entwicklung ist unvereinbar mit einer demokratischen Gesellschaft und ihren Prinzipien.

Zweitens: die Demokratie wird auf verschiedene Weisen unterhöhlt, vor allem, weil neue technische Möglichkeiten der Überwachung aller Bürger bestehen, welche die Realität des Stasi-Staates mit seinen papiernen Aktenbergen und seinen IMs als anachronistisches Monstrum von einst erscheinen lassen, welches längst – der Möglichkeit nach –  überholt ist. Wir fürchten mit gutem Grund: was möglich ist, wird ohne Kontrolle von unten früher oder später auch gemacht. Es wird jetzt schon viel zu viel gemacht, das jenseits der Vorgaben der Verfassung liegt.

Drittens: die reale Teilhabe der Bevölkerungsmehrheit an den sie elementar betreffenden Entscheidungsprozessen ist weitestgehend fiktiv.
Lokale Demokratie und universale Demokratie müssen kein Gegensatz sein: sie sind vereinbar. Partizipation und sozio-ökonomische Rechte: das sind wesentliche Forderungen. Die „schweigende“, noch stille Mehrheit muss in die Debatte darüber einbezogen werden.

Es versteht sich von selbst, dass in einer demokratisierten Gesellschaft die brennenden Fragen der Zeit – Fragen wie die Verurteilung grosser Teile der jungen Generation, die keine verlorene Generation sein will, zur Untätigkeit, der Hunger in der Welt, entwürdigende Armut und der damit oft verbundene faktische Ausschluss von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die sich anbahnende ökologische und Klimakatastrophe, die riskante Nutzung der Kernkraft und andere Probleme –  anders und entschiedener angegangen werden können als dies angesichts der heutigen politischen Strukturen und unter der Bedingung der Vorherrschaft der kleinen Minderheit wirtschaftlich Mächtiger, die ihre partikulären Interessen mit Hilfe der gegenwärtigen Institutionen verteidigen, möglich scheint. Ob es gelingt, eine realere Demokratie zu verwirklichen oder nicht, das wird letztlich auch darüber entscheiden, ob es der Menschheit gelingt, vielleicht noch reversible Entwicklungen abzuwenden und Katastrophen historisch ganz neuen Ausmaßes zu vermeiden.
 
 

Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
 

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Z Communications  AND Z mag
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M.Albert/Wilpert, "The State 
of the U.S. Left", in: Z Communications (backup copy)

Michael Albert,
Occupy Wall Street Entreaty &
Spanish Anarchists Interview 
(Z Communications, Sept.2011)
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Left Forum
www.leftforum.org
 
 

Local to global.org
www.localtoglobal.org
 
 

Nathan Schneider, "From Occupy 
Wall Street to Occupy Everywhere"
(The Nation, Oct. 31, 2011)

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John E. Jacobsen, "Wall Street Already Finding Loopholes in Financial Reform Legislation" 

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Louise Story, "A Secretive Banking Elite Rules Trading in Derivatives"

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Slate.com
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Obama's tax cut for the rich

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Matthew Cardinale,"New and 
Old US Groups Forge Broad Alliances"

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Libcom.org, Theses on the global crisis 

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Democracy real YA!
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Manifesto of Democracia real YA!

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Inés Benítez, "Spain:
'Indignant' Protests Heat Up Election Campaign" (IPS news net, Oct.4,2011)

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Tito Drago,"'Indignant' 
Demonstrators Marching to 
Brussels to Protest Effects 
of Crisis" (IPS news net, July 30, 2011) 

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Tito Drago, "Spain: Streets Paved 
with Evicted Families" (IPS, Oct.7, 2011)

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CHILE

Students in Chile are protesting against the privatization of higher education that took place
under Pinochet, and against the underfinanced public education system
(xinhua net, Oct.20, 2011)

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GREEK SITES (HELLAS)

To VIMA on the general strike (Oct.19-20,2011)

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ELEFTHEROTYPIA on the general strike 
(Oct.19-20,2011)

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Athens (Greece) indymedia
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Mavroulis Argyros on the general strike 
(in: Real.gr, Oct.20, 2011)

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