Die katholische Soziallehre,
die »Wirtschaft«, die repräsentative Demokratie und die
Partizipation
War es nicht gestern, oder vor wenigen
Jahren? Da warfen manche – und es waren nicht wenige – allen möglichen
Reformern, vor allem aber den Linken jedweder Art und Farbe, ja, all denen,
die von einer anderen, gerechteren Welt sprachen, vor, sie hätten
ein idealistisches, weltfremdes » positives Menschenbild«.*
Die
Menschen seien einfach nicht so, daß eine bessere, gerechtere Welt
– etwas, das nicht auf der schrankenlosen ökonomischen Konkurrenz
und der Antriebskraft des Wunsches nach privater Bereicherung fuße
– möglich sei. Vermutlich auch keine realere Demokratie als die heutige,
»repräsentative«, die den wirtschaftlich Mächtigen
große
Einflußmöglichkeiten
bietet und der Masse der Bevölkerung
das Recht, zur Wahl zu gehen, um sich nach der Wahl von der
politischen Klasse in wesentlichen Fragen übergangen zu sehen.
Wunsch nach privater Bereicherung,
o ja! In China kam der Pessimist Deng Hsiao-ping auch zu dem Schluß,
daß darin eine Antriebskraft wirtschaftlicher Entwicklung zu sehen
sei.
„Bereichert euch!“, wurde eine dem
„Yes, we can!“ der »public relations Leute« Obamas vergleichbare,
populistische Parole. Eine, die anheizt. Eine, die verschleiert in ihrer
vagen Weise, etwas anzudeuten.
Muß man eigentlich noch die
Frage stellen, ob die chinesischen »Macher«, diese versierten
»Pragmatiker«, in ihrem Versuch, »unser westliches (Wirtschafts-)
Modell« zu kopieren und uns dabei in jeder Beziehung zu überholen,
längst dieselben für Mensch und Umwelt – zumindest auf Sicht
– katastrophalen Fehler machen wie »wir« (»der Westen«)?
Das heißt, wie die hier bei »uns«
die Entscheidungsmacht in den Händen Haltenden, die sich übrigens
ganz ähnlich gegen eine wirkliche Wende wehren wie ihre fernöstlichen
Imitatoren?(1)
Wenn Kritiker der globalen Entwicklung
auf bedrohliche Fehlentwicklungen hinweisen, treffen sie auf Widerstand.
Dieser Widerstand ist übrigens
nicht nur an der Verwässerung und Einschränkung der Befugnisse
der US-amerikanischem Umweltschutzbehörde EPA abzulesen– etwas,
das kürzlich erst auf Betreiben der »Wirtschaft«
vom Kongress, also dem US-Parlament durchgesetzt wurde.(2)
Auch die Schwierigkeit, sich auf Konferenzen wie in Kopenhagen oder Cancun
auf notwendige Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe, also
zur Abschwächung des in vollem Gang befindlichen Klimawandels zu einigen,
spricht Bände. Und die Atomenergiebehörde hat aus der nuklearen
Katastrophe in Japan – der lange der Öffentlichkeit verheimlichten
Kernschmelze bei mindestens drei Reaktoren im Atomkraftwerk Fukushima –
vor allem den Schluß gezogen, daß man der Bevölkerung
wieder „Vertrauen“ in die zivil genannte Nutzung von AKWs einflößen
muß.(3)
Das „Bereichet euch!“ ist offenbar
derzeit eine globalisierte Maxime der Mächtigen, die auch für
diejenigen – und das ist die Mehrheit der Bevölkerung – propagiert
wird, die keine oder kaum eine Chance dazu haben, sondern im Gegenteil
die Zeche zahlen.
Eigenartig, daß die Pessimisten
bei uns – die, welche von der Schlechtigkeit des Menschen, der Dominanz
der » Gier« und des »Egoismus« so überzeugt
sind, daß ihnen eine auf Konkurrenz und Profitmaximierung gegründete
Gesellschaftsordnung als allein der angeblichen menschlichen Natur entsprechende
erscheint – oft zugleich Ethiker sind. Jedenfalls sind sie
es zumeist, die den ethischen Diskurs und die ethische ausgerichtete „Analyse“
statt der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse favorisieren.
Dabei wagen sie sich nichts desto
weniger an die gesellschaftlichen Verhältnisse präjudizierende
»ethische« Aussagen.
Nehmen wir das Beispiel des Erzbischofs
von München und Freising, Reinhard Marx, dem man zugute halten muß,
daß sein Menschenbild differenzierter ist. Er hält
immerhin – aber auch das ist, im Anschluß an die Reflexion
des Völkermords und anderer von deutschen Faschisten begangener Verbrechen
inzwischen längst Konsens unter sogenannten Gebildeten in Deutschland
– den Menschen (ganz abstrakt) für des Guten wie des Schlechten
(oder Bösen) fähig.(4)
Letztlich ist das eine Schlußfolgerung
aus dem katholischen Dogma des »freien Willens«, das durchaus
der herrschenden, vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägten
Rechtsauffassung vom Menschen als freiem, nämlich zur
Vertragsfreiheit befähigtem Rechts-Subjekt verwandt
ist.
Reinhard Marx ist Professor für
Sozialethik, zugleich ein ranghohes Mitglied der kirchlichen Hierarchie
– und insofern repräsentativ für eine ins Gewicht fallende Tendenz
in der katholischen Amtskirche, deren politischer Einfluß in Europa,
aber nicht nur dort, nach wie vor bedeutend ist. Er ist fraglos ein Konservativer
im gängigen Sinne des Wortes. Das zeigt sich etwa daran, daß
er in einer historischen Situation, in welcher der Grad der realen Emanzipation
der großen Mehrheit der Bevölkerung alles andere als zureichend
ist, glaubt, vor einem zu viel an Emanzipation warnen zu
müssen. In seiner Schrift Das Kapital. Ein Plädoyer für
den Menschen(5),
die in vieler Hinsicht eher den Titel verdienen würde, Das Kapital,
Eine Verteidigung der Unternehmer und Unternehmens, ihres Eigentums und
ihres Rechts auf Gewinn schreibt er z.B. unmißverständlich:
„Wo die Emanzipation des Subjekts grenzenlos wird, da mündet die Freiheit
am Ende in neue Zwangszusammenhänge.“(6)
Wo, bitte schön, ist heute die Emanzipation und mithin die Freiheit
der Unteren grenzenlos? Die Furcht vor ihrer Emanzipation – ist sie nicht
die Furcht der »Eliten«? Dennoch ist Reinhard Marx nicht
jemand, der kritische Positionen nicht zur Kenntnis nimmt.(7)
Er ist ein Kirchenmann, aber auch einer, der immerhin von einer dem „christlichen
Menschenbild eng verbundenen Anthropologie der Aufklärung“ spricht.(8)
Und
dies, obwohl die Kirche, die er repräsentiert, bis weit ins 19., wenn
nicht 20.Jahrhundert hinein anti-aufklärerische und anti-demokratische
Positionen favorisierte, und sich noch in jüngster Zeit in peinlicher
Nähe zu Diktatoren wie Franco und Pinochet fand.
Klammern wir eigene Fragen nach
der besseren Gesellschaft, der realeren Demokratie sowie Einsichten, gewonnen
aus der Analyse der historisch gewordenen, derzeit weltweit dominanten
gesellschaftlichen Verhältnisse aus, und begeben wir uns auf das von
Reinhard Marx favorisierte Terrain der Ethik, so finden wir dort bei ihm
Aussagen, die möglicherweise bedenkenswert sind.
Reinhard Marx zitiert in seiner
soeben genannten, sehr zügig auf den Ausbruch der Finanzkrise reagierenden,
nämlich bereits im Jahr 2008 veröffentlichten, zwei Jahre später
dann als Taschenbuch erschienenen Schrift sinngemäß einen
sizilianischen Jesuiten des 19. Jahrhunderts, Luigi Taparelli, der die
für einen katholischen Kleriker damals beachtliche Feststellung machte:
„Nicht nur ein einzelner Mensch, auch eine Gesellschaft kann gerecht oder
ungerecht sein.“(9)
Das sahen damals Millionen Menschen
so.(10)
Auch heute sehen es Millionen Menschen
so.(11)
Und sie spürten damals und
spüren heute, daß sie in keiner gerechten Gesellschaftsordnung
leben. Viele ahnen wohl auch oder wissen, daß sie selbst (streng
genommen, reflektiert man »ethisch« das Menschsein) Menschen
wie Shen Te / Shui Ta in dem Stück von Brecht sein können: freundlich
und
unfreundlich. Bereit, das letzte Stück Brot zu teilen, aber auch –
je nach den Umständen – hart bei der Verteidigung des »eigenen«
Brotes. Sie ahnen oder wissen aus Erfahrung, daß es unter ihnen
welche gab und gibt, die mehr zur Großzügigkeit oder mehr zum
Geiz neigen. Mutigere und ängstlichere. Humorvolle und Miesepeter.
Und vor allem, daß – manchmal ganz unerwartet – das Eine in
das Andere umschlagen kann. Das wußten oder ahnten
auch zu Taparellis Zeiten vermutlich viele »Nicht-Ethiker«:
also Tagelöhner, Kleinbauern, Handwerker, Manufaktur- und Fabrikarbeiter.
Kleine Gewerbetreibende etc. ebenfalls. Und ihre Frauen und Kinder, ihre
längst nicht mehr zur Arbeit befähigten greisen Eltern wußten
es oft wohl noch besser.
Das Besondere an der Aussage Taparellis,
die Reinhard Marx als so bemerkenswert begreift, ist somit nur, daß
die
Kirche – als Jahrhunderte lang als Verteidigerin des Status
Quo und der herrschenden Macht auftretende » ethische Instanz«
– wenigstens die abstrakte Möglichkeit einräumte, daß das
zu beidem, zu gutem wie schlechtem fähige »einfache Volk«
unter einem ungerechten Herrscher, und was entscheidender war, unter einer
strukturell ungerechten Herrschaftsordnung und einem ungerechten sozio-ökonomischen
Ordnung (also in einer ungerechten Gesellschaft) leben könne.
Auch der kirchliche Sozialethiker
Reinhard Marx räumt das offenbar ein.
Er räumt ebenso ein, daß
die katholische Kirche, deren hochrangiger Repräsentant er ist,
hinsichtlich „ihre[r] Vorstellungen von politischen Freiheitsrechten [...]
defizitär“ war – eine Formulierung, die vorsichtig Kritik in Bezug
auf die Vergangenheit dieser Amtskirche, aber nicht in Bezug auf ihre Gegenwart,
billigt.(12)
Derselbe Sozialethiker, der sich
– als vermutlich in Westdeutschland sozialisierter Katholik – gleichsam
natürlich vielen Positionen des »christlich-sozial«, also
konservativ geprägten politischen Liberalismus jenes
Typs, wie ihn unter anderem die CSU vertritt, angenähert haben dürfte,
ist ein Schwankender. Ein Verteidiger der gegebenen Gesellschafts- und
das heißt vor allem, der Eigentumsverhältnisse.
Mithin auch des Eigentums und der
Macht der großen Konzerne.
Er ist zugleich einer, der Kritik
übt, an »Exzessen« derer, die dieses Eigentum benutzen
und die »Wirtschaftsmacht«, damit auch politische Macht ausüben.
Wie Obama ist er nicht ganz und gar gegen change, gegen Veränderung:
Er verteidigt einen flexiblen Status Quo.(13)
Der Kern der dahinter stehenden
Sozialethik ist das der vorkapitalistischen Welt, also der alten
Feudalordnung entlehnte »Subsidiaritätsprinzip«.
Das Modell ist abstrakt, hierarchisch
und gleichzeitig auf den Schutz des Partikulären angelegt. Die autoritäre
Interpretation des Satzes „Gib Caesar, was des Caesar ist“, gilt
als gemünzt auf die gesamte gesellschaftliche Ordnung. Diese wird
letztlich korporatistisch verstanden: als hierarchisch strukturiertes
Gefüge mit der Staatsmacht an der Spitze und darunter – den staatlichen
Gesetzen unterworfen, aber vor staatlichen Interventionen zu schützen
– der »subsidiären« Sub-Gesellschaft der
Wirtschaft, in der die Unternehmer Eigentumsrechte und eine Fürsorgepflicht
für ihre Beschäftigten haben. Die Macht der Wirtschaft,
die Rechte des »Eigentums« – das wird legitimiert und
durch die Legitimation trägt man dazu bei, beides aufrechterhalten.
Wie die kirchliche Hierarchie – spätestens seitdem der römische
Imperator Konstantin das Christentum zu so etwas wie einer Staatsreligion
erhob – die herrschende Ordnung der sogenannten Sklavenhalter- Gesellschaft
des Römischen Imperiums, dann die feudalistische Ordnung als gottgegeben
verteidigte, so verteidigt sie heute die gleichsam ewig und für
alle Zeit gegebene soziale Ordnung der »sozialen Marktwirtschaft«.(14)
Der Sozialethiker Reinhard Marx
faßt die Bedeutung des »Subsidiaritätsprinzip«.
für die katholische Sozialethik so zusammen:
„Eine übergeordnete Gesellschaft
darf nicht in das innere Leben einer untergeordneten dadurch eingreifen,
daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt.“(15)
Von Ivan Illich interpretiert, könnte
dieser Grundsatz – antihierarchisch gewendet und bezogen auf das Verhältnis
zwischen dem Ganzen und den Teilen, zwischen Demokratie auf der Ebene
des Nationalstaats bzw. der Weltebene und Demokratie vor
Ort (Recht der Menschen vor Ort, über ihre Lebensumstände
zu bestimmen) – interessante Impulse geben für eine realere, partizipative
Demokratie, auch für Selbstverwaltung, also Demokratie hinsichtlich
der produktiven und distributiven Aktivitäten der Menschen.
Aber der autoritäre, von übergeordneten
und
untergeordneten
Ebenen ausgehende Charakter des Modells, wie er der heute immer
noch im Klerus vorherrschenden Interpretation zueigen ist, reduziert die
Chance einer solchen Applikation.
Als die übergeordnete
Ebene erscheint, wie bereits gesagt, die zentrale Staatsmacht. Sie gilt
gewissermaßen als abstrakter Repräsentant der Gesamtgesellschaft,
bzw. als die mit der Vertretung der »Gemeinwohl«-Interessen
– gleichsam von Gott? oder von jenem Souverän, von dem laut
Verfassung „alle Macht“ ausgeht, vom »Volk« (peuple;
“We,
the people“)? – beauftragte Instanz.
Und ihr gegenüber wird, auf
der Basis des Subsidiaritätsprinzips, die rein abstrakte, formale
Autonomie der dem Staat untergeordneten »Sozialpartner«
– also der in einem Vertragsverhältnis stehenden Unternehmer
(bzw. Unternehmen) und der Beschäftigten (bzw.
ihrer institutionellen Repräsentanten, also der Gewerkschaften) verteidigt.
Von den Gewerkschaften und ihren
Rechten erfahren wir allerdings wenig.
Der Akzent liegt auf den aus dem
Subsidiaritätsprinzip sowie aus den naturrechtlich interpretierten
»Menschenrechten« (wie sie bestimmte Vertreter der Aufklärung,
z.B. John Locke, formulierten) abgeleiteten Rechten der Unternehmer
(bzw. Unternehmen).
Ein ganz zentrales Menschenrecht
ist dabei das Eigentumsrecht der Unternehmer (bzw. Unternehmen
und ihrer Aktionäre) und die daraus abgeleitete freie Verfügung
über das Eigentum.(16)
Wenig überzeugend in seiner
Abstraktheit ist allerdings die Ableitung des wirtschaftlich relevanten
Eigentums
in der hier und heute gegebenen Gesellschaft vom Leistungsgedanken, vom
„Leistungswettbewerb“(17)
und von dem Argument, daß die Eigentümer großer Aktienpakete
oder die Mitglieder von Familiendynastien, die Großunternehmen im
Familienbesitz halten, ihr Eigentum selbst „erarbeitet“ haben(18)
– auch wenn hin und wieder Alt- oder Neureiche mit Blick auf ihre
Villen und Unternehmen zu sagen pflegen: „Das hab ich mir alles selbst
erarbeitet.“ Das sogenannte einfache Volk hat ein anderes, gegenteiliges
Erfahrungswissen: „Von seiner Hände Arbeit ist noch keiner reich geworden.“
Dennoch: das in immer weniger Händen
befindliche entscheidende, da große Eigentum
(an Banken, Versicherungen, mit Handel und Produktion befaßten Konzernen
usw.), das schon der US-Senator Estes Kefauver „in wenigen Händen“
(in a few hands) sah(19)
–
eine Tendenz, die seit den 1990er Jahren noch zugenommen hat – wird von
dem Sozialethiker verteidigt mit den Worten: „Niemand, auch nicht der Staat,
darf die Vorteile konfiszieren, die sich jemand [...] erarbeitet
hat.“(20)
Keinem Unternehmer also, und keinem Unternehmen darf Eigentum entzogen
werden. Was aber die Unteren angeht, zumal die von diesen Unternehmen in
übergroßer Zahl Entlassenen, die sich in die Schar der Millionen
Arbeitslosen einreihen, die 50 Bewerbungen in einem Monat abschicken, aber
keine Antwort erhalten und die vielleicht nach einem Jahr den Kopf hängen
lassen und aufgeben, so empfiehlt ihnen ein Bestallter, in sicherer Stellung
gut Lebender Eigeninitiative, Verantwortung für
das eigene Leben, die Kreativität, sich als
Vereinzelter (denn der Arbeitslose ist für R. Marx vor allem ein Einzelner,
ein sittliches Subjekt) wie Münchhausen am Schopf aus
dem Sumpf zu ziehen.(21)
Dieser Einzelne – vor allem er – wird ermahnt: „Natürlich
ist jeder zunächst einmal dazu verpflichtet, sich [...] [seinen Lebensunterhalt,
und seinen Möglichkeit, wenigstens minimal am gesellschaftlichen Leben
zu partizipieren ] selbst zu erarbeiten.“(22)
Verbleibt das nicht ganz auf der Linie derer, die erfüllt sind vom
„Im Schweiße deines Angesichts“, also dem ideologisch
als dominant zu betrachtenden Arbeitsethos, das die realen Verhältnisse
auf dem Arbeitsmarkt und die Tendenz der gegebenen Wirtschaftsordnung,
immer mehr Menschen »freizusetzen« und mit immer weniger Menschen
immer mehr (auch viel unnützes, aber profitabel vermarktbares Zeug)
produzieren zu können, tagtäglich ad absurdum führen?
Es wäre offensichtlich ein
Irrtum, dies – trotz der möglichen anderen Lesart, wonach der Staat
„Vorteile“ bzw. Eigentum und Eigentumszugewinn konfiszieren dürfte,
sofern
sie
nicht realiter selbst erarbeitet sind, und wonach der nicht
arbeitende Hedge-Fond Investor, Besitzer einer Bank oder Großaktionär
bei Bayer oder Porsche seine „Partizipationsmöglichkeiten“ (das
heißt auch bei Reinhard Marx, allerdings bezogen auf die Unteren,
zunächst einmal, seinen Lebensunterhalt) verlieren würde
und nun real zu erarbeiten hätte – als ein Plädoyer
für eine Arbeiterdemokratie, eine neue Form von Gerechtigkeit usw.
zu verstehen. Es also für eine versteckte Ermutigung zu einer neuen,
kompensatorischer Gerechtigkeit verpflichteten Politik zu
halten, welche das unrechte Gut der durch List, Betrug, Raffinesse,
ungleiche bzw. unfaire Verträge, die Ausnützung der Arbeit Anderer
zu beträchtlichem (gesellschaftlich in relevantem Maß
Wirtschaftsmacht und politische Macht repräsentierendem) Eigentum
Gekommenem einziehen und den Bestohlenen das Genommene zurückerstatten
würde. Nein, darum geht es mitnichten.
Denn außer der realen
Arbeit des realen Arbeiters (ob nun blue collar oder white
collar worker – Mensch im Blaumann in der Fabrik, oder Mensch mit
weißem Hemdkragen im Büro, im Kontrollraum, am Schalter oder
hinter dem Tresen) zählt für den »Ethiker« auch der
„Fleiß“ des Spekulanten, seine „Kreativität“ bei der Realisierung
von Schneeballsystemen, sein „Wagemut“, der ihn selbst vor dem Bruch von
Gesetzen nicht zurückschrecken läßt.(23)
Dies mag – in der gewählten
Zuspitzung – polemisch formuliert sein, denn Reinhard Marx
polemisiert in seiner Schrift sehr wohl gegen exzessive Formen der Spekulation.
Er übersieht aber, daß allen Geschäften mit dem Boden,
allen Kreditgeschäften, allem Rohstoff- und sonstigen Handel, ja sogar
aller Produktion für den Markt ein spekulatives Moment innewohnt,
ohne das keine Realisierung einer Grundrente und auch kein Profit möglich
wäre. Die »Arbeit« des Eigentümers des in Familienbesitz
befindlichen Unternehmens, ebenso des Aktionärs, des leitenden Managers
(als die Geschäfte führendem Repräsentanten der Eigentümer
bzw. Aktionäre) ist also – soweit sie das Wesentliche des Geschäfts,
die Konzeption von Geschäftsstrategien zwecks Erwirtschaftung einer
Rendite betrifft, die »Arbeit« eines Spekulanten. Und
alles andere am Geschäft der Eigentümer, (Groß-) Aktionäre,
Manager an der Unternehmensspitze ist an subalterne Gehilfen (an Zuarbeiter
und Mitarbeiter, in gewissem Sinne also an Arbeiter) delegierbare
und in der Regel auch delegierte Organisation und Kontrolle
der
realen Arbeitstätigkeit des Personals.
Läßt man die Polemik
beiseite, so kann man natürlich durchaus von Risikobereitschaft und
insofern von Wagemut der Unternehmer von einst und von heute sowie
der Manager von großen Konzernen sprechen.
Große Unternehmen an der
US-amerikanischen Ostküste z.B. legten den Grundstein ihres Vermögens
durch den Sklavenhandel, ebenso vermutlich manch ein britisches und holländisches
Unternehmen. Später kam das China aufgezwungene, sehr lukrative Geschäft
mit Opium hinzu. Alles mit Risiken behaftete, daher im Glücksfall
hoch profitable Geschäfte. Die Krupps, Thyssens, Röchlings wurden
zu mächtigen Industriellen-Dynastien (und in Nürnberg verurteilten
Kriegsverbrechern) durch die mit dem Risiko von Kriegen und Niederlagen
behaftete Rüstungsproduktion. 1866, 1870/71, 1914-18, 1949-45
sowie die den Kriegen vorgeschalteten Aufrüstungsphasen waren die
Jahre, in denen ihre Firmen in Blüte standen und expandierten. Grundig
wurde im Zweiten Weltkrieg zum Großunternehmer, ebenso im Ansatz
Bertelsmann, eine mickrige zunächst pietistisch ausgerichtete Provinzfirma,
die in großem Umfang dem Nazi-Regime genehme „Erbauungsliteratur“
für die Soldaten an der Front druckte.
Der Sozialethiker bejaht das vielleicht
im Einzelnen nicht (es gibt ja, denkt und sagt er, Exzesse),
aber er bejaht prinzipiell diesen konkreten „Leistungswettbewerb“, der
offenbar als dasjenige Moment gesehen wird, das gesellschaftlich unverzichtbar
ist. Weil es entscheidend zur Dominanz und zur globalen Rolle all der wohl
nie anders als auf zweifelhafte Weise groß gewordenen global
players führte? Für den Sozialethiker Reinhard
Marx ist die dem Leistungswettbewerb einbeschriebene Dynamik jedenfalls
etwas, das im großen Ganzen betrachtet durchaus zu „akzeptablen Ergebnissen“
führte und führt.(24)
Letzteres aber sei dann, und nur dann zu erwarten, erfahren wir, „wenn
[...] eine grundsätzliche Chance auf Gewinn“ besteht.(25)
Der für den derart argumentierenden
Sozialethiker nach wie vor entscheidende Gewährsmann ist ein wegen
seiner konservativen, auch gegenüber die Theologie der Befreiung rigorosen
Haltung berühmt gewordener Papst: Johannes Paul II.
Dieser Johannes Paul II. ist offensichtlich
in klassischem Sinne, in ganz wesentlichen Punkten, ein Wirtschaftsliberaler.
Er wendete sich laut Reinhard Marx entschieden gegen staatliche „Bevormundung
oder gar Steuerung“ der Unternehmen (und der Wirtschaft als ganzer).(26)
Also im Prinzip gegen Industriepolitik, staatliche Rahmenplanung, Finanz-
und Steuerpolitik, direkte oder indirekte Eingriffe der Notenbanken in
das Gefüge der Währungen und ihrer Wechselkurse, gegen eine Staatsquote
in einer Höhe zwischen 40 und 50 Prozent: alles Sachverhalte, die
seit spätestens den 1930er Jahren in aller sogenannten hochentwickelten
Industrieländern gang und gäbe sind.
Der Mann bezieht also frühkapitalistische
wirtschaftsliberale Positionen. „Er war ein großer Freund und Verteidiger
[...] der wirtschaftlichen Freiheit des Menschen.“(27)
Der Unternehmerfreiheit.
Man muß daran erinnern, daß
diese – aus Verantwortung für das Unternehmen, wie man uns sagt –
ausgeübte wirtschaftliche Freiheit einen Top-Manager, im Interesse
der Eigentümer handelnd, ermächtigt, mit einem Federstrich aus
einem hohe Gewinne erwirtschaftenden Unternehmen zwecks Erhöhung
der Rendite 20.000 Beschäftigte zu entlassen und den Arbeitsdruck
für die verbliebenen Beschäftigten zu erhöhen. Während
den verbliebenen Beschäftigten die Freiheit bleibt, sich diesem Druck
zu beugen oder zu kündigen. Während gleichzeitig jene entlassenen
20.000 bislang Beschäftigten (und ihre Familien) die Freiheit haben,
angesichts einer seit fast vier Jahrzehnten in den „hochentwickelten westlichen
Industrieländern“ bestehenden Massenarbeitslosigkeit mit ihrer neuen
Situation zurecht zu kommen und das Beste daraus zu machen, oder auch nicht.
Immerhin beklagt der Sozialethiker
Reinhard Marx (allerdings folgenlos und auf Korrekturvorschläge verzichtend)
das, was gang und gäbe ist, was er aber als Ausnahme
und Exzess versteht: daß Top-Manager, z.B. von Banken,
die durch Beteiligung an Spekulationen Milliarden Verluste machten, eine
hohe „Abfindung“ erhalten, während viele der ebenfalls von dem betreffenden
Unternehmen Entlassenen oft perspektivlos innerhalb eines Jahres (oder
in einigen Fällen nach maximal anderthalb Jahren) bei HartzIV landen.(28)
Immerhin ignoriert auch der Sozialethiker
Reinhard Marx nicht das Problem der Massenarbeitslosigkeit. Er zitiert
den soeben genannten Papst: „[D]er Staat hat die Pflicht“, die untergeordnete
subsidiäre Ebene, gleichsam das Pendant seiner einstigen Lehnsfürsten,
die Manager der Konzerne und die Unternehmer, und das meint dann konkret
deren wirtschaftliches Haneln, also „die Tätigkeit der Unternehmen
dahingehend zu unterstützen, daß er [arbeitsrechtliche, steuerliche
und sonstige] Bedingungen für die [erhoffte unternehmerische] Sicherstellung
von Arbeitsgelegenheiten schafft. Er muß die [gesamtwirtschaftliche]
Tätigkeit dort, wo sie sich als unzureichend erweist, anregen bzw.
ihr [der Tätigkeit und damit den Unternehmen] in Augenblicken der
[Wirtschafts-] Krise unter die Arme greifen.“(29)
Wie
das – zugunsten der Banken – im Kontext der derzeitigen Krise geschieht
und wer die Zeche zahlen soll und zum Teil schon zahlt, das erleben wir
gerade.
Wir müssen, indem wir an das
Beispiel der paternalistischen katholischen Unternehmer des späten
19. Jahrhunderts (wie Villeroy & Boch) erinnern, hinzusetzen, daß
nicht nur dem Staat eine Verantwortung für die Unternehmen, sondern
auch den Unternehmern von der katholischen Sozialethik eine Verantwortung,
und zwar ganz besonders für die von ihnen Beschäftigten, zugeschrieben
wird. Sie ist der Verantwortung des Feudalherren gegenüber
seinen »Schutzbefohlenen« vergleichbar.
Wie seinerzeit dem Feudalherrn gepredigt wurde, daß er im Namen Christi
seinen Untertanen, seinen Dienern und Knechten, seinen leibeigenen Bauern
usw. einiges schuldig sei (eine Predigt, die nur selten konkrete positive
Effekte gezeitigt haben dürfte), so predigt man in den letzten 150
Jahren, und wie wir am Beispiel eines Reinhard Marx sehen, bis heute –
ebenfalls in der Regel wirkungslos – den Unternehmen, deren »wirtschaftliche
Freiheit« die Kirche verteidigt, die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen
Umgangs mit den dem Management bzw. dem Eigentümer untergebenen
Beschäftigten. Es sind ja der Weisungsbefugnis der Herren
des Eigentums Unterworfene. Gleichsam von Gott ihnen anvertraut. Oder doch
eher von den Kräften des Marktes ihnen in den Rachen geworfen?
Man muß allerdings anerkennen:
Die den Unternehmen bzw. Unternehmern abverlangte Verantwortung bezieht
sich nicht nur auf die ihnen (und ihrer Macht als Eigentümer) ausgelieferten
Untergebenen.
Der Kreis derer, gegenüber
denen sich vor allem die Konzerne, vielleicht auch die mittleren und kleinen
Unternehmen verantwortlich verhalten sollen, ist in der Abhandlung des
Reinhard Marx – ganz im Sinne der von ihm vertretenen katholischen
Sozialethik – um vieles weiter gezogen, als das er nur die Beschäftigten
umfassen würde.
Das klingt dann so:
„Die Manager in den großen
Unternehmen haben nicht nur die Rendite der Aktionäre im Blick zu
behalten“ – und damit ein aus dem Eigentümerrecht abgeleitetes legitimes
Interesse zu wahren, so befindet der Sozialethiker. Sie haben „auch [auch!
– also nebenbei, außerdem, parallel dazu, so gut es eben geht] die
berechtigten Interessen der Beschäftigten, der Kunden, der ganzen
Gesellschaft und auch [auch! sogar! ein bißchen unter »ferner
liefen«?] der Umwelt [bei der Verfolgung ihres auf Maximierung der
Rendite angelegten Vorhabens] im Blick zu behalten“.(30)
Das ist wahrhaft umfassend, also
sozialethisch gedacht.
Was immer ein solches „im Blick
[...] behalten“ allerdings heißen mag, es scheint keine großen
praktischen Konsequenzen zu haben. Die Beschäftigten finden sich –
angesichts der Millionen Arbeitslosen, die ihre Stelle einnehmen könnten
– der Erpressung durch die Unternehmen, die Gewerkschaften einer auf ihre
dauerhafte Schwächung angelegten Unternehmerstrategie und staatlichen
Politik ausgesetzt.(31)
Die Beschäftigten, in ihrer »Rolle« als Kunden, finden
sich konfrontiert mit sinkenden Reallöhnen und offener oder versteckter
Inflation sowie einer Tendenz zur Qualitätsverschlechterung der Produkte
(was zu niedrigeren Produktionskosten, verminderter Haltbarkeit, schnellerer
Warenumschlagsgeschwindigkeit führt). »Die Gesellschaft«
und selbst die (wirtschafts- bzw. unternehmensfreundliche) »Politik«
sieht sich gleichzeitig immer stärker dem »Diktat der Wirtschaft«
unterworfen. Und das, was man die Umwelt nennt und was nach Umweltpolitik
schreit, die physiologischen und psychischen Existenzbedingungen
des Menschen, die Überlebensbedingungen aller Gattungen, die Qualität
der Luft, des Wassers, der Erde: alles geht seit Jahrzehnten schneller
den Bach runter als mancher es ahnt. Aber das, was man in den Zeitungen
die Wirtschaft nennt – die Macht der Unternehmen also– sperrt
sich nach wie vor, in der Regel aus »Kostengründen«, gegen
eine Umkehr, eine Korrektur einer destruktiven Weise, zu produzieren, zu
vermarkten
und
»konsumistische« Bedürfnisse bei denen, die es sich noch
leisten können, anzuheizen.
Wenn es einer kirchliche Sozialethik
um eine einigermaßen gerechte Gesellschaft geht – man macht ja »pragmatisch«
Konzessionen, läßt sich auf Kompromisse ein, ist »kein
Idealist, kein Anhänger unmöglicher, nirgends realisierter noch
realisierbarer Utopien, weil wir Menschen fehlende, sündige Wesen
sind, Vertriebene aus dem Paradies« – so braucht sie einen Anschein
der Fairness für eine von ihr gerechtfertigte Gesellschafts- und damit
auch Eigentumsordnung, in der offenkundig großer Reichtum (vor allem
natürlich Verfügungsgewalt über Kapital, und damit politischen
Einfluß) in den Händen weniger parallel zu großer Kargheit
und Gestresstheit des Lebens der Massen und auch erheblicher Armut existiert.
Für diesen Anschein soll die These, manche sagen, die Ideologie der
„Chancengleichheit“ – die angeblich im Prinzip gewährleistet ist durch
„Chancengerechtigkeit“ sowie „Verfahrensgerechtigkeit“ – sorgen.(32)
Verfahrensgerechtigkeit meint die
rechtliche und die bürokratisch institutionelle Absicherung gleicher
Zugangsrechte. Also jene abstrakte formale Gleichheit, die dem Kind, das
aufwächst in der kaum Platz für ungestörtes Lernen lassenden
Kleinwohnung einer wegen Arbeitslosigkeit HartzIV beziehenden, zur Alkoholikerin
gewordenen, alleinerziehenden Mutter, die Erarbeitung der gleichen Zugangsvoraussetzungen
für ein Universitätsstudium aufbürdet wie dem Akademikerkind,
das in einem von materiellen Nöten relativ freien familiären
Kontext heranwächst. (Man muß die Beispiele drastisch wählen,
um die Quintessenz zu verdeutlichen, das formal gleiche Verfahren bei materiell
ungleichen Voraussetzungen, was die Möglichkeit, von diesen Verfahren
Gebrauch zu machen, keine reale Chancengleichheit ergibt.)
Der Begriff der Chancengerechtigkeit soll wohl bedeuten,
daß formale Chancen gerecht verteilt werden; nicht, daß die
Chancen gerecht sind, insofern sie materiell gleiche Ausgangsbedingungen
schaffen. Damit würde er faktisch zum Synonym für formale Chancengleichheit,
die vor allem von der Bereitstellung eines Schulsystems erwartet wird,
das jedem eine – in der Praxis allerdings, im Anbetracht ungleicher sozialer
Lage und ungleicher Sozialisationskontexte, ungleiche – Chance gibt.
Der Sozialethiker stellt dazu fest:
„Volle Chancengleichheit freilich wird kein moralisch akzeptables Verfahren
je herstellen können.“(33)
A priori wird also festgestellt:
nicht das Ausbleiben oder Versagen kompensierender Maßnahmen, die
im Sinne kompensatorischer Gerechtigkeit das Ausmaß der Ungleichheit
der „Chancen“ zu verringern suchen, ist ein Skandal; nein, der Versuch,
Verfahren zur Erreichung voller Chancengleichheit zu entwerfen, ist von
vorn herein moralisch bedenklich und würde er zum Erfolg führen,
könnte er nichts anderes sein als moralisch nicht akzeptabel.
Im stalinistischen Rußland
galt den Herrschenden »Gleichmacherei« als ein Verbrechen.
Und die bürokratische poststalinistische »Elite« in der
am Devisenmangel, am ungleichen Tausch (échange inégal)
auf dem Weltmarkt, an ihren Staatsschulden zugrunde gegangene, am Ende
bankrotten DDR sah das ähnlich, auch wenn die Ideologie – ähnlich
wie die republikanische Ideologie in Frankreich – gewisse, empirisch nicht
oder nur ganz unzureichend eingelöste Gleichheitsvorstellungen
transportierte. Eigenartig, daß viele Menschen in der DDR dem Partei-
und Staatschef Erich Honnecker nach dem Fall der Mauer offen seine Privilegien
vorwarfen: den Saab Mittelklasse-Wagen, den er statt eines Trabant fuhr,
und das bescheidene, einem Prokuristen eines mittleren Unternehmens in
Westdeutschland damals gut anstehende Haus im der Führungsriege vorbehaltenen,
abgeschirmten »Elite«-Ghetto am Wandlitzsee. Offenbar haben
und hatten »Eliten« (damals in Ost und West, heute in der einen,
Globalisierungsstrategien unterworfenen Welt) ähnliche Vorstellungen
von der funktionalen Notwendigkeit einer »gewissen Ungleichheit«,
während die Unteren spontan am Mangel an Gleichheit leiden und selbst
ein Ausmaß der materiellen Privilegiertheit, das im Vergleich mit
demjenigen des derzeitigen Deutsche Bank Chefs Ackermann (Monatseinkommen
weit über 600.000 Euro) geradezu winzig erscheinen muß, in der
DDR bei ihren den Sozialismus propagierenden Herren zurückwiesen.
Daß der Sozialethiker Reinhard
Marx sich in der Frage der Erreichbarkeit „voller Chancengleichheit“, die
ja nur die theoretische Möglichkeit des sozialen Aufstiegs
und/oder der Bereicherung einiger (!!!) aus der Menge der
Unteren implizieren würde (genau wie die gleiche Chance auf einen
Lottogewinn nicht bedeutet, daß jeder gewinnt), pragmatisch und zu
Abstrichen bereit zeigt, bedeutet nicht, daß er kein Herz hat für
die Unteren. Er gibt vielfach Belege an die Hand, Passagen, in seiner Schrift,
die zeigen, wie ihn diese oder jene Ungerechtigkeit betroffen macht und
vielleicht auch schmerzt.
Wenn es um die Lage der Millionen
Arbeitslosen geht, wird allerdings deutlich, daß ein der Logik der
Gesellschaftsordnung verpflichteter »Pragmatismus« den Schmerz
überwiegt.(34)
Kein Zweifel: der Abbau des »Sozialstaats«
– letztlich, in Deutschland, das HartzIV Regime, mit seinen Begleitumständen
wie Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit, Druck auf die
Tariflöhne, Abbau regulärer Arbeitsplätze, also Reduzierung
der Zahl der in sogenannten »Normalarbeitsverhältnissen«
Beschäftigten – wird von dem Sozialethiker Reinhard Marx verteidigt:
Denn der Sozialethiker ist sich eben darin mit der neo-liberal gewendeten
rot-grünen Regierung unter dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder
und mit der schwarz-gelben Regierung unter der Kanzlerin Angelika Merkel
einig: „Unzweifelhaft [...] besteht im Zuge de Globalisierung [...]
die Notwendigkeit zu wirtschafts- und sozialpolitischen Anpassungen.“(35)
Eine
härtere Gangart gegenüber den Beschäftigten und den arbeitslos
Gemachten war also, um der Gesundheit der auf dem Weltmarkt tätigen
Konzerne, deren Profite explodierten, notwendig.
Für die an den Rand, also aus
dem Arbeitsprozeß Gedrängten, mußte der Gürtel enger
geschnallt und der Anreiz geschaffen werden, auf einem von einem Überangebot
an Arbeitskräften überschwemmten Arbeitsmarkt – ungeachtet der
so erfolgenden tendenziellen Destruktion bereits erworbener materieller
wie formaler Qualifikationen – jede Dreckarbeit für einen
Hungerlohn zu verrichten, um öffentliche Kassen wenigstens an
dieser Ausgaben-Front minimal zu entlasten und um ein Klima der
Einschüchterung und verstärkten Disziplinierung für die
noch nicht von Entlassung Betroffenen zu schaffen.
Deutlich heißt es bei Reinhard
Marx: „[E]ine Revision der bisherigen Sozialpolitik [war] erforderlich,
weil der Staat [...] an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen
ist. [...] Die deutsche Staatsverschuldung ist [...] auf über 1,5
Billionen Euro angewachsen. Davon entfallen etwa zwei Drittel auf den Bund.
Der Zinsdienst ist der zweitgrößte Posten im Bundesetat, er
ist viermal so hoch wie die Neuverschuldung.“ (36)
Der Sozialethiker blendet aus, daß
die Situation in den USA, in Großbritannien, in Irland, Island, Belgien,
Frankreich, in Litauen, in der Slowakei, in Portugal, Spanien, Italien,
Griechenland, etc.etc. exakt die nämliche ist: Die Kassen sind mehr
oder weniger leer, die Staaten samt und sonders mehr oder weniger stark
überschuldet.(37)
Reinhard Marx blendet auch die Gründe dafür aus: nämlich
die bereits jahrzehntelang wirkende ökonomische Dynamik, die herausläuft
auf eine extreme Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums an der
»Spitze« und eine relative, dabei immer erheblichere (bei den
Ärmsten sogar extreme und absolute) Verarmung der Masse der
Bevölkerung.(38)
Die diese Dynamik begleitende sowie
fördernde Politik hat der Umverteilung von unten nach oben dadurch
zusätzliche Impulse gegeben, daß sie Steuererhöhungen
für die Massen (vor allem bei den direkten Steuern) zugleich mit Steuerbefreiungen
und Steuerreduzierungen für Unternehmen und die kleine Gruppe der
hohe Einkommen Beziehenden durchsetzte.(39)
Gleichzeitig wurden – zum Nutzen der in dem betreffenden Sektor tätigen
Unternehmen – die Rüstungsausgaben in vielen Staaten auf Rekordhöhe
gehalten und es wurde für Nachfrage auf diesem Sektor durch das Führen
kaltblütig ausgelöster Kriege (Jugoslawien/Kosovo; Irak; Afghanistan;
Libyen) gesorgt. Die staatlichen Kassen sind also nicht ohne Grund leer.(40)
Eine Verschärfung des Problems
leerer öffentlicher Kassen war in vielen Fällen gewollt, um eine
Handhabe für den Abbau des »Sozialstaats« zu haben. Zum
Teil ergab sich das rasant anschwellende Budget-Defizit aus der steuerlichen
Entlastung der Unternehmen sowie der Steuerflucht der Reichen (Stichwort:
Luxemburg, Lichtenstein, Schweiz, offshore havens).
Und zugleich resultierte es aus dem nicht nur krisenbedingten, sondern
bereits zuvor durch den Abbau von »Normalarbeitsplätzen«
und die Zunahme der »working
poor« verursachten relativen Wegbrechen der
gesamtgesellschaftlichen Lohnsumme. Was heißt, daß die Arbeitsmarkt-Deregulierung
und ihre Effekte auf das für die Finanzierung des Staatshaushalts
immer wichtiger gewordene Lohnsteuer-Aufkommen durchschlugen.
Aber auch wenn der Sozialethiker
Reinhard Marx – sei es nun kaltblütig oder widerstrebend – den herrschenden,
medial vermittelten Konsens bezüglich der Unvermeidbarkeit großzügiger
staatlicher Hilfen für die Konzerne (mit Einschluß der besonders
bedachten Banken) sowie der austerity, also der Verarmungspolitik
als bittere, aber unvermeidbare Medizin für die Masse
der Bevölkerung teilt, zu der er übrigens angesichts
des Amts und seiner Bezüge oder Privilegien mit Sicherheit so wenig
zählt wie die Vertreter des Volks im Parlament, so überschreitet
er dennoch manche extrem konservativen Positionen in Richtung auf einen
gesamtgesellschaftlich vorherrschenden sozialdemokratischen bzw. kleinbürgerlichen
Diskurs, der z.B. gerade auch die (bereits weiter oben diskutierte) »Chancengleichheit«
formal und abstrakt in den Mittelpunkt des – kaum theoriebelasteten, aller
konkreten Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse abholden –
Interesses stellt.
Man muß, der Gerechtigkeit
halber, bei aller Kritik an Reinhard Marx zugeben, daß eine Reihe
seiner unzweifelhaft aus einer konservativen Überzeugung erwachsenen,
von politischen und Wirtschaftsliberalen oft belächelten oder sogar
kritisierten Positionen im Interesse der arbeitenden Menschen
liegen und somit positiv (also materialiter als fortschrittlich)
zu bewerten sind.
Die von ihm kritisierte Erosion
des Verbots der Sonntagsarbeit – eine Erosion, die kaum gesellschaftlich
plausibel begründbar ist, außer in bestimmten Bereichen
wie den Krankenhäusern, Altenheimen, bei den Verkehrsbetrieben (Bahn,
ÖPNV) und angesichts des derzeitigen Stands der Technik auch bei Kraftwerken
und Hochöfen – ist ein sozialpolitischer Rückschritt.(41)
Der
von Reinhard Marx geforderte Schutz der Familie, seine Übernahme
der Positionen von vor allem feministischen Frauen, die Arbeitszeitmodelle
einfordern, welche eine Vereinbarkeit von Beruf, Kinderwunsch, Kindererziehung,
Familie erleichtern, ist fortschrittlich.(42)
Aber er zeigt sich hilflos angesichts
der Gegebenheiten, die zu kritisieren er in der Lage ist. Dies vor allem
wegen der von ihm verkannten Notwendigkeit aktiven, organisierten Widerstands
zur Rückgewinnung verlorener sozialer Errungenschaften. Seine knappe
kritische Anmerkung bezüglich eines von der Politik auf Betreiben
der Unternehmen favorisierten „einseitig-ökonomistischen Blick[s]
auf das Thema Bildung“, welcher ohne Frage – darin besteht Einigkeit
zwischen R.Marx und vielen anderen Kritikern – der Schulreform und
dem die Hochschulen verschulenden Bologna-Prozeß zugrunde liegt(43),
seine Kritik des Funktionalismus (44) und
der technokratischen und bürokratischen Tendenzen (45)
ist begrüßenswert. Aber er verkennt, wie dies alles systematisch
und strukturell mit den politisch und ökonomisch ausschlaggebenden
Fakten der Entwicklung großer, im Kern bürokratischer Privat-Unternehmen
und Staatsapparate seit den 1890er Jahren, noch deutlicher seit dem Zweiten
Weltkrieg, sowie der immer frenetischer betriebenen Steigerung der Kapitalakkumulation
nach dem Ende der »fordistischen« Periode, welches keinesfalls
einen Abbau, sondern nur eine Flexibilisierung der Bürokratie brachte,
zusammenhängt. Da er die zugrundeliegenden undemokratische Strukturen
und Praktiken verkennt oder verkennen will und hier somit vor einer den
Kern treffenden Kritik zurückschreckt, kann er mit seinen kritischen
Anmerkungen den »Eliten« nicht wirklich gefährlich werden.
Er bleibt für sie ein Verbündeter, der auch als Kritiker harmlos
ist, soweit er bloß vermeintlich korrigierbare Exzesse benennen will.
Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte,
die seine Ethik in manchem
sympathisch macht.
Da ist das Konzept der Partizipation.(46)
Wir wissen, die »Mitbestimmung«
in Deutschland war von Anfang an gedacht als Instrument der Integration,
des Konfliktmanagements, der Milderung statt Aufhebung von Mißständen,
von Widersprüchen. Auch – bisweilen, in der Praxis – als Instrument
der verdeckten, aber faktisch wirkungsvollen, manchmal deutlich korrumpierenden
Kooptation von Delegierten der Unteren durch das Management, die Kapitalseite.
Sie war natürlich auch ein
gewerkschaftlicher »Machtzuwachs« in jenem der gegebenen Ordnung
immanenten, also auf eine korporatistische Interessenausgleichs- und Vereinbarungskultur
abzielenden Sinn.
Davon ist heute, da sich die Kräfteverhältnisse
(durch Massenarbeitslosigkeit und Wegfall einer im Cold War
Kontext von den »Eliten« gesehenen äußeren Bedrohung)
verändert haben, nicht mehr viel zu spüren. Die »Mitbestimmung«
wird z.T. offen umgangen, abgebaut, zurückgefahren; z.T. besteht sie
weiter, findet aber die gewerkschaftliche Seite nicht mehr hofiert, sondern
in der Defensive.
»Mitbestimmung«
war hierzulande von den beteiligten Sozialpartnern und vom Gesetzgeber
nie als Vorstufe von Autogestion gemeint, im Gegenteil. Sie
war und ist – und das wird immer deutlicher – zahnlose, impotente »Partizipation«.
Was aber besagt die der katholischen
Sozialethik geschuldeten Vorstellung von Partizipation, die sich
bei Reinhard Marx entdecken läßt?
Sie bedeutet – sagt uns dieser Reinhard
Marx – aktive, praktische Teilnahme und Teilhabe aller Menschen an einer
guten, gerechten Gesellschaft, einer solidarischen, allerdings den
Markt als Movens, als vermeintlichen Stimulator von „Kreativität“
zulassenden Ordnung.
Verstünde man diese Vision,
dieses Ziel einer Teilnahme und Teilhabe aller Menschen zulassenden
Ordnung ohne das besagte Movens, ohne den konkurrenzgetriebenen, vor allem
anderen der Rendite-Realisierung dienenden, gegenüber der qualitas
des Produzierten gleichgültigen Markt, so wäre die Partizipation
eine umfassende statt gezähmte. Sie wäre eine humane, die freie
Entwicklung der menschlichen Wesenskräfte begünstigende,
statt eine entfremdete.
Ein solche Vorstellung von Partizipation,
die dem vom lediglich Zeitbedingten befreiten Kern der katholischen Sozialethik
einbeschrieben ist, geht zweifellos – erleichtert man die zugrundeliegende
Ethik auch, das Urchristliche daran ernst nehmend, um die dem Klerus lieben
hierarchisch fixierten Komponenten – sehr weit. Realisierte
man sie, könnte solche Teihabe und Teilnahme, solche genuine Partizipation
Kern und Logik der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung transzendieren
in Richtung auf eine gute Gesellschaft, eine realere Demokratie, eine solidarische,
nicht mehr auf Konkurrenz und Tauschwert und Profit, sondern auf Kooperation
und Privilegierung der wirklichen Bedürfnisse ausgerichtete Ökonomie.
Das wissen die Befürworter einer wirklich umfassend partizipativen
Demokratie. Das ahnen oder wissen die Parteigänger der Theologie der
Befreiung innerhalb der Kirche. Besonders auf den Philippinen, in Süd-Korea,
in Südafrika, in Brasilien, Paraguay, Nicaragua, Guatemala und Mexiko.
Das vermuten sogar manche hier.
Unsere Erfahrung ist aber heute:
davon – von solcher Partizipation – ist in unserer Gesellschaft nichts
zu spüren. Die »Eliten« fürchten sie. Die von ihnen
praktizierte und zugleich gesamtgesellschaftlich unter den Unteren geförderte
Kälte und Konkurrenz, das funktional auf Erwerb ausgerichtete Denken
und Handeln ist Ausgeburt einer ganz besonderen Art von „Kreativität“,
die eher den Namen der Bauernschläue, der Cleverness, der Raffinesse
verdient.
Eigenartig, daß Reinhard Marx
diesen (wirtschaftlichen und politischen) »Eliten« eine
wirkliche, nicht die wenigen, sondern die Gesellschaft als ganze bereichernde
„Kreativität“ zugesteht.
Unsere Erfahrung ist doch anders:
die schöpferischen Menschen sind (auch wenn J. Schumpeter das anders
sehen wollte und konnte, weil er eine andere, unternehmerische
Definition des Schöpferischen wählte) selten oder nie Teil der
»Eliten«; sie sind Teil der Bevölkerung, meist ohne hohen
Rang, ohne Privilegien, ohne wirtschaftliche Macht, ohne politische Macht.
Wir wissen doch längst schon: die Mozarts sterben arm. Die Werke van
Goghs oder Gauguins werden erst, nach dem die Maler längst tot sind,
teuer. Dichter sind oft Hungerkünstler. Kafka war kein Entrepreneur,
sondern Angestellter, der in der Nacht sich den Albtraum der Versicherungsanstalt
vom Leib und aus der Seele schrieb. Die meisten Erfinder und kreativen
Ingenieure werden von cleveren Geschäftsleuten über den Tisch
gezogen und haben materiell gesehen wenig oder nichts von ihren Erfindungen.
Sie schenken sie sozusagen der Menschheit – und die Geschäftemacher
vermarkten das dann.
Unsere Erfahrung ist: die wirkliche
Kreativität kann auf den Markt scheißen und der Markt, der Literaturmarkt
und seine Konkurrenz zum Beispiel, korrumpiert die Literatur. Der Kunstmarkt
wird zum Feld für das poker game der Kuratoren, Museumsdirektoren,
Galeristen, Sammler, sonstigen »Investoren« – aber die wirkliche
Kunst entsteht trotzdem, am, im und neben dem Markt. Sie braucht den Markt
nicht, sie leidet daran. Der Markt kommt nur insoweit ins Spiel, als der
Künstler essen und trinken muß, um zu leben, als er die Miete
bezahlen muß, als er Leinwand und Farbe mit Geld zu bezahlen gezwungen
ist. Er ist in den Markt verwickelt, wider Willen.
Die Kinder, die Frauen, die Männer,
die alten Leute: alle sind sie in unserer Gesellschaft in den Markt verwickelt.
In der Regel – ahnt man – wider Willen.
Ja, Teilnahme und Teilhabe
aller Menschen an der Gesellschaft, in der sie leben, ist für Menschen,
ihre Existenz, ihre physische, auch ihre psychische Gesundheit
lebenswichtig. Ja, das hat mit Würde zu tun. Mit dem potentiellen
Glück, etwas zu tun für einen Anderen, auch für sich. Etwas
zu geben: etwas zu kreieren, zu schaffen. Einen schönen Stuhl oder
Tisch, ein Lächeln, einen Garten, einen nützlichen Herd oder
Kühlschrank. Eine Fahrt, von A nach B, die Menschen zu einem Ort bringt,
an dem sie gern sind oder etwas von Belang zu tun haben oder einfach »nur«
Menschen begegnen.
Heute sprechen die, die über
die Arbeitswelt reden, eine verquere, den falschen Verhältnissen geschuldete
Sprache. Was anders als verquer ist es denn, wenn man heute das Vorliegen
eines »Normalarbeitsverhältnisses« lobt?
Und dies, weil die Betreffende oder der Betreffende in seinem Bemühen,
in einer auf Lohnarbeit gegründeten Gesellschaft seinen Lebensunterhalt
zu verdienen, dank eines solchen »Normalarbeitsverhältnisses«
nicht auf ein »prekäres Arbeitsverhältnis« reduziert
ist, sich also nicht gezwungen sieht, von einem Lohn zu leben, von dem
man im Volksmund mit Recht zu sagen pflegt: Zu viel zum Sterben,
und zu wenig zum Leben...
Auch der Sozialethiker Reinhard
Marx, für den das alte Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfesystem
des europäischen Sozialstaats vor der Reform so entwürdigend
und unakzeptabel ist wie die inzwischen hierzulande kopierte amerikanische
Lösung, aus welfare recipients, also Sozialhilfe-
bzw. Alhi-Empfängern arbeitende Arme (working poor)
zu machen (47),
setzt auf das »Normalarbeitsverhältnis«. Wenn er die Vorstellung
von Partizipation in Bezug auf die Wirtschaft konkretisiert, geht er von
diesem »Normalarbeitsverhältnis« (mit seiner ihm einbeschriebenen
Struktur, also der Weisungsbefugnis des Unternehmens, der Abhängigkeit
des Beschäftigten) als Standard aus. Es kommt bei seinem Partizipationsvorschlag
daher nicht viel mehr heraus als die bei Toyota und Saab eingeführte
Team- und Gruppenarbeit. Welche – wie wir wissen – die repressive
Funktion der Team-Verantwortlichkeit für die vereinbarte Leistung
mit einschließt. Und welche sich auch aus anderen Gründen als
für das Heraufschrauben der Produktivität zwecks Erhöhung
der »Ausbeutungsrate« äußerst geeignetes Management-Instrument
erweist. (Ähnliche Management-Techniken findet man heute übrigens
nicht mehr nur in der Automobilindustrie, sondern selbst bei Banken.) Bei
Reinhard Marx, der anscheinend den Hochglanzprospekten der ihre »Unternehmenskultur«
anpreisenden Konzerne Vertrauen schenkt, entsteht ein idealisiertes Bild
von der „Möglichkeit beständiger Fort- und Weiterbildung“ (die
aber de facto, wo sie besteht, nicht der Entfaltung der Fähigkeiten
der Menschen dient, sondern dem Kosten-Nutzen-Kalkül der Unternehmen
unterworfen ist) und von der „Garantie partizipativer und kooperativer
Betriebsstrukturen.“(48) –
Vielleicht gibt es die ja inzwischen hier und dort wirklich,
wenigstens im Ansatz: etwa bei Brockmans, dem besetzten Betrieb in Buenos
Aires, und bei der Continental-Reifenfabrik in Puebla (Mexiko), die von
der Belegschaft übernommen wurde.
Reinhard Marx spricht – wie andere
auch – vom Bedürfnis der Menschen, eine sinnvolle Arbeit
zu tun.(49)
Er nimmt also – scheinbar oder wirklich – die zuerst von Karl Marx formulierte
und theoretisch begründete Kritik entfremdeter Arbeit ernst. Das heißt,
er versteht Arbeit als eine Beziehung, ein sinngeleitetes
und sinnliches Verhältnis zum Gegenstand, der aus der Arbeit hervorgeht
und zugleich zu denen, für die der Gegenstand sein kann. Zu anderen
Menschen, mit denen der Arbeitende durch das Band gesellschaftlicher
Arbeit verbunden ist. Und durch den produzierten Gegenstand:
jedenfalls, wenn es um produzierende Arbeit geht. Bei der anderen Arbeit,
heute »Dienstleistung« genannt (weil sie ein dienendes, ein
Knecht-Herr, Verkäufer-Kunde, Pfleger-Gepflegter, Heilender-Geheilter,
Lehrender- Belehrter, nie ein auf Gleichheit beruhendes, gleichsam dialogisches
Verhältnis, der Logik der »Arbeitgeber« zufolge, sein
soll) steht ganz wesentlich, ihrem ganzen humanen Sinn nach, den aber die
vorherrschenden Verhältnisse abzutreiben und uns auszutreiben geeignet
sind, ebenfalls die Beziehung, das humane, lebendige, von Respekt und der
Anerkennung der Würde des Anderen, der Nicht-Verleugnung der eigenen
Würde getragene Verhältnis und Verhalten von Mensch zu Mensch
im Mittelpunkt. Oder sollte eben dort stehen, wenn alles in Ordnung wäre.
Was hindert so viele von uns daran – welche Macht (als internalisierte,
aus Disziplinierungen hervorgegangene, oder auch als kontrollierende, überwachende,
befehlende)?
Ja, nichts ist wirklich gut – und
doch überlebt das Gute zwischen den Zeilen, in den Atempausen, den
glücklichen Momenten, in denen die Kontrolle versagt oder das Kontrolliert-Sein
vergessen wird.
Und in den Momenten des Widerstands,
der Rebellion gegen Unrecht, unnütze Zwänge, falsche (statt sinnvoller)
Disziplin. Ja, auch das ist wahr: die OP-Schwester muß wach und koordiniert
arbeiten, und so manch anderer auch. Nicht der gesellschaftlich verordneten
Hierarchie wegen, sondern der Arbeit wegen: damit sie gut gelingt, zum
Guten des Operierten. Auch das ist wichtig: zum Guten, zu seinem lebendigen
Nutzen, nicht zu einem quantifizierbaren, in Geld bezifferbaren. Wir brauchen
eine andere Vorstellung vom »Nutzen« als die heute gängige:
eine, die das Lebendige in den MITTELPUNKT stellt, die wirklichen essentiellen
Lebens-Bedürfnisse der lebendigen Menschen und allen Lebens, statt
der toten Ziffern. Geld ist nur ein Phantasma – ähnlich wie
die potemkinschen Produktionsstatistiken in den einst sozialistisch genannten,
bürokratisch-etatistischen Industriegesellschaften des Ostblocks,
wo man – wie hier im Westen – das Wachstum fetischisierte, aber die konkreten
Menschen, ihre Sehnsucht, gut als Gute und vielleicht sogar manchmal glücklich
zu leben, benutzte und zugleich ignorierte. Die Menschen. Die realen Menschen
– nur der Dampf der Lokomotive namens Revolution? Verheizt. Verbraucht.
Verschlissen. Um einer oktroyierten, befohlenen Utopie willen?
Volker Brauns Bild, das die benutzten Menschen wie das sieht, was verbraucht
wird, im Akt der Produktion eines falschen Fortschritts – trifft es nicht
fast in ähnlicher Weise auf die in unserer gegenwärtigen, das
Wachstum und den Profit vergötzenden Gesellschaft millionenfach Benutzten
(ja, benutzt! aber von wem? wenn nicht von Unternehmern, von Bürokratien,
Regierungen und ihren Armeen!) und millionenfach als verbraucht und nun
unnütz Weggeworfenen zu? Und auf andere Weise auf die
(man zählt sie ebenfalls nach Millionen, aber sie sind noch jung),
denen man von vorn herein die Möglichkeit, tätig zu sein und
zugleich ihr Brot zu gewinnen, versperrt?
Wir müssen Mündige werden.
Wo wir es noch nicht sind. Von Mündigkeit und der „Wahrnehmung der
Freiheit“ spricht auch Reinhard Marx.(50)
Wenn man das ernst nimmt, gilt es dann nicht, das Postulat zur Praxis werden
zu lassen? Gilt es nicht, das zu konkretisieren? Was bedeutet die Freiheit,
zwischen Galgen und Guillotine wählen zu dürfen, zwischen
Scylla und Charybdis? Ist einer, der Fähigkeiten hat, Fertigkeiten
besitzt, einen Sinn für Schönheit und für das Nützliche,
der eine Vorstellung hat von seiner Arbeit, die ihm Freude macht, die er
gut vollenden kann, als Schmied, als Karosserie-Schlosser, oder als Bootsbauer,
wirklich frei, wenn man ihm – arbeitslos geworden – die Freiheit gibt,
zu wählen zwischen Laub auffegen auf der Straße als Ein- Euro-Jobber
und Erdulden der Schikanen einer Institution namens ARGE, wenn er sich
weigert? Was bedeutet Freiheit bei Reinhard Marx in seiner Schrift Das
Kapital, und was Würde, und ist die erwartete „Eigeninitiative“
des arbeitslosen Bootsbauers nur die, daß er irgendeine – beliebige
– Lohnarbeit sucht? Im Fall des Unternehmers aber, ist da die beschworene,
ihm von Reinhard Marx zugesprochene „Eigeninitiative“, „Freiheit“, „Kreativität“
– konkretisiert man sie – nicht oft kaum mehr als das Kalkül,
mit dem ein Findiger einen Trottel abzockt? Verzeiht das Burschikose des
Ausdrucks, Leser! Auch die großen international operierenden Handelsgesellschaften
machen oft nicht viel mehr. Vielleicht, angesichts der anderen Quantitäten,
etwas von weit schlimmerer Qualität als im Fall des Hütchenspielers
auf der Frankfurter Zeil.
Ja, es stimmt – wir wünschen
uns, für uns selbst und für alle Menschen – Mündigkeit und
die reale Möglichkeit zur „Wahrnehmung der Freiheit“: realer,
allerdings; nicht irgendeiner phantasmagorischen, vorgegaukelten.
Man kann, dieses sagend, versucht
sein, Reinhard Marx recht zu geben, wenn er das Fehlende sieht, das, was
auch zur Wahrnehmung der Freiheit fehlt. Und zwar nicht in der Außenwelt,
der Gesellschaft, sondern in den Einzelnen selbst. Er schwankt – stimmt
es? – dieser Reinhard Marx: Spricht von uns Menschen als Subjekten, die
ein Gewissen haben, in denen eine Anlage, ein menschlicher Zug als Potenz
präsent ist, als offen zutage getretener oder verborgener, verdrängter,
vielleicht verkümmerter Wunsch, das Gute zu suchen, gut zu leben,
in Gemeinschaft, solidarisch, das Gemeinwohl nicht mit Füßen
tretend.(51)
Und dann heißt es, andererseits, bei ihm: „Zur Wahrnehmung ihrer
Freiheit und [...] zu eigenverantwortlichem Handeln müssen die Menschen
erst einmal fähig [...] werden.“(52)
Das
verstehe ich, das ist mir sympathisch. Diese Gleichzeitigkeit von Hoffnung,
geboren aus unseren guten zwischenmenschlichen Erfahrungen, und von Skepsis,
von recht skeptisch um Realismus bemühter Einschätzung der Unzulänglichkeiten
von Menschen mit ihren Fehlern, Schwächen – etwas, das mit vielem
zu tun hat, der Sozialisation in der Kindheit, Wunden, geschlagen durch
ein Erziehungssystem, durch Andere, durch so vieles, was schmerzt. Da bin
ich einig mit ihm: wir sind nicht perfekt, und erhoffen keine perfekte
Welt. Wir sind Lernende. Auch zu lieben, zu helfen Lernende. Unterwegs.
Es stimmt, ich könnte genau so sagen, ich bin darin einig mit Arno
Grün, mit Erich Fromm, mit Ernesto Cardenal. Wir dürfen die Menschen
nicht idealisieren, auch uns selbst nicht. Nichts entschuldigt unsere shortcomings,
unseren Mangel an Liebe, Vertrauen, Freundlichkeit, Empathie – keine verletzende
Gesellschaft. Und doch verzeiht der liebende Andere uns den Mangel, und
wir ihm. (Ich weiß, es wird schwierig, wenn es um die Eichmanns geht.
Bruder Eichmann? Es wird schwer, da noch zu verzeihen, selbst wenn wir
ahnen, There, but for God’s grace, go I. Ein Zufall, nicht
in seiner Wiege gelegen zu haben; mehr vielleicht nicht.) Also einverstanden,
mit vielem. Nicht einig bin ich mit Reinhard Marx, wenn er dem zitierten
letzten Satz den Zusatz hinzufügt: „...und befähigt werden“:
Zur Freiheit, zum guten Handeln. Die Vielen, sagt er, sollen’s, müssen’s,
oder müßten es. Von wem denn; wer befähigt sie? Wer steht
ÜBER ihnen, geht voran, schenkt aus, aus dem Füllhorn, was sie
nicht haben? Ach ja, die Kirche, ihr Klerus – der Lehrmeister des einfachen,
noch nicht mündigen Volkes. Der Vormund. Ganz so wie die selbsternannten
Avantgarden der Menschheitsbefreiung im Ostblock es zu sein versuchten.
Vielleicht war darum der Haß zwischen beiden Avantgarden, beiden
Priesterkasten, so tief.
Wenn es um Partizipation
geht, dann bedeutet das tatsächlich, daß wir alle das Wagnis
eingehen im guten Glauben, aber wissend um Risiken, zuzustimmen, dafür
aktiv einzutreten und die Realisierung des Vorhabens zu befördern,
daß alle Menschen, die ganze multitude
– ungeachtet des realen Grads ihrer von niemandem abzuschätzenden
oder gar zu quantifizierenden »Reife«, »Sittlichkeit«,
»Intelligenz« usw. – an der Reflexion über
die res publica, die öffentliche Sache, die ja auch
(sobald es konkret wird, vor Ort) im direktesten, unmittelbarsten Sinn,
statt nur vermittelt, indirekt, ihre eigene ist, teilnehmen können.
Und ebenso an der Debatte darüber. Und dann – direkt
und unvermittelt – an den díese öffentliche Sache, die
gesellschaftlichen Fragen, betreffenden Entscheidungen.
Ein Nein, also, zur Gelehrten-,
zur Philosophen-»Republik«, die nur eine (vielleicht sich benevolent
wollende) Despotie der vermeintlich Gebildeten wäre.
Ein Nein auch zur Herrschaft der
Experten, der durch Experten beratenen Bürokraten und Technokraten,
und zur abgehobenen – den Wählern zu fast nichts verpflichteten –
»politischen Klasse«, die sich von den einen finanzieren, von
den anderen wählen läßt, um dann Entscheidungen zu fällen,
deren Orientiert-Sein am Gemeinwohl den Vielen oft absolut nicht einleuchten
kann. Was diese Vielen, wenigstens zum Teil, bislang nicht unbedingt hindert,
wieder wählen zu gehen und sich ein weiteres Mal enttäuscht zu
sehen.
Auch wenn Wahlen und Delegierte
sinnvoll sind, ist nicht annehmbar, da nicht einsehbar, wie wenig Delegierte
in
der Zeit zwischen den Wahlen der Bevölkerung konkret und real Rechenschaft
schuldig sind. Ist nicht akzeptabel, wie schwer sie, bei Vertrauensmißbrauch,
abberufbar sind. Noch auch dies: wie sehr ihr Gewissen, dem sie angeblich
allein verantwortlich sind (so beschwört es »die Verfassung«
– ein Menschenwerk, das nicht unfehlbar ist), oft als etwas erscheint,
das sie bei der Parteiführung abgeben können. Bei jener Gruppe
von Führern, Koopteuren, Postenzuschanzern, die sie – die einfachen
Delegierten – auf sogenannte Loyalität zu Personen und auf Fraktionsdisziplin
einzuschwören nur allzu bereit (und gewitzt) ist. Um hier von den
Verführungen, die vom Lobbyismus ausgehen, gar nicht erst im einzelnen
zu reden. Da erscheint dann doch die direkte Volksentscheidung zu konkreten
Fragen als Korrektiv, Ergänzung und Ausdruck der aktiven, freien
Einmischung der Bevölkerung in die ja sie selbst betreffenden
Angelegenheiten: also als ein Ausdruck republikanischer Souveränität
der Vielen. Ist das nicht demokratische Partizipation auf
dem Feld des Politischen?
Und in der Arbeitswelt, in dem,
was man in den Medien »die Wirtschaft« nennt, geht es da nicht
auch um Partizipation der Vielen, reales demokratisch geformtes gemeinsames
Entscheiden ALLER BETEILIGTEN über die entscheidenden Fragen? Also
um mehr und anderes als sehr indirekte, zugleich reduzierte, auf das Mitreden
bei einigen wenigen Fragen beschränkte gewerkschaftliche »Mitbestimmung«?
Das ist kein Votum gegen Gewerkschaften. Wie die Parteien, müssen
auch sie wohl – dies ein Vorschlag – intern demokratisiert werden. Sie
sind nicht überflüssig, aber andere, direkte Möglichkeiten
der demokratischen Partizipation müssen an ihre Seite treten, so kann
man argumentieren, wenn es um Vorschläge zur Partizipation geht.
Mein Eindruck in Bezug auf die Schrift
von Reinhard Marx ist der, das für ihn vielleicht Partizipation nur
Mittun,
Mitwirken
ohne gleiche Rechte heißt. Wer ein Priester-Gemeinde-Schema,
ein Hirt-Herde-Schema internalisiert hat, löst sich vielleicht nur
schwer von obrigkeitlichen Gedankenmustern. Und der katholische Klerus,
wie wohl jede Priesterkaste und Hierarchie innerhalb derselben, versteht
sich wohl nur zu leicht als berufener Lehrer, als geistliche Obrigkeit.
Den Gläubigen sei unbenommen, dieses Lehramt anzuerkennen. Gesamtgesellschaftlich
darf man, so denke ich, dieses Muster nicht auf Verhältnisse übertragen,
deren Demokratisierung immer unabweisbarer wird. Denn es sind die Experten,
die professionalisierte politische Kaste oder »Klasse«, die
»Wirtschaftselite«, die gesamte »Machtelite« der
westlichen marktwirtschaftlichen Gesellschaften, die uns alle in die ökologische
Krise, die Finanz- und Schuldenkrise, die Krise der »realen Wirtschaft«,
wie sie manche nennen, und die soziale Krise geführt haben. Und die
sich unfähig zu einer entschiedenen Wende zeigen.
„Der letzte Bauer im bayerischen
Wald“ versteht mehr als sie.(53)
Die, die man – manchmal herablassend
oder verächtlich – die »einfachen Menschen« nennt, haben
ein klares Gespür für Gerechtigkeit, für Verlogenheit, für
das Falsche. Und einen Verstand, der sie – wie alle Gebildeten und Verbildeten
oder mehr – befähigt, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen, Lösungen
zu entwerfen.
Vertrauen wir einander!
Wir werden auch Fehler machen,
und werden lernen.
Für ein besseres Zusammenleben,
den Schutz des Lebendigen,
für das Unrecht korrigierende,
freundliche Gerechtigkeit.
Für Teilhabe, für die
Freiheit, mitzudenken, zuzuhören und gehört zu werden, mitzuentscheiden.
Mmmm. Ist das sehr idealistisch
– abgehoben von den realen Verhältnissen, ihrer Bedrückung
und Unterdrückung, ihren Zwängen und unseren Schwächen –
gedacht?
Bei Reinhard Marx – ich sagte es
schon – gründet sich der Entwurf einer auf Beteiligungsgerechtigkeit
und damit Partizipation gegründeten guten, gerechten Gesellschaft
auf eine Vorstellung des Menschen als einem Wesen, „daß [...] ein
sittliches Subjekt ist, das darauf angelegt ist, das Gute zu suchen, gut
[im doppelten Sinn] zu leben, ein Gewissen zu haben. Das
ist ein Anspruch, der am Anfang stehen muß.“(54)
Das heißt doch: der Mann formuliert
ein Postulat und zugleich eine Sicht des Menschen – auch aus Erfahrung
mit Menschen und aus Selbsterfahrung gewonnen – , die „am Anfang“ stehen
muß. Das ist also zu verstehen als ein Ausgangspunkt für etwas,
das eine Reflexion, eine Hoffnung, ein Projekt (im Sartreschen
Sinne) ist. In seinem wesentlichen Sinne drückt das von Reinhard
Marx Formulierte auch George Orwells Vertrauen in die basic decency
der
Leute aus. Also in die tendenziell mögliche und immer wieder
bei vielen erfahrbare grundsätzliche Anständigkeit der sogenannten
einfachen Menschen: diese Hoffnung Orwells, die ihn – den aus Negativerfahrung
in Spanien zum Pessimisten Gewordenen, den Skeptiker, was Parteien
und Diktaturen angeht – sagen ließ: „There is hope in the proles“,
Es sind die Prolos, die Proleten, die einen hoffen lassen. Daß auch
diese Hoffnung durch partikuläre Erfahrungen bei manchen zerstört
werden kann, steht auf einem anderen Blatt; die gemachten Aussagen sind
eben doch Hoffnungen, Erkenntnisse des Schon (hier und da, und viel weiter
gehend, als manche ahnen) Vorhandenen, des Vorscheins (Ernst
Bloch). – Und des Möglichen.(55)
Den Menschen, uns allen also, ist
zu trauen.
Den Menschen: Wenn sie sich nicht
der Macht verschreiben.
Wenn sie sich nicht um jeden Preis
am großen, über andere Menschen reale Macht verleihenden
Eigentum festkrallen.
Es sind dies wohl die beiden großen
Verführungen, für eine jede und einen jeden von uns.
Arno Gruen, ein bemerkenswerter
Denker, entwarf das Ziel einer solidarischen Ökonomie. Er sagte nicht,
wie Reinhard Marx, solidarische Marktwirtschaft. Da ist die Nähe der
beiden Ziele, und der Unterschied.
Letztlich spüren viele von
uns in den Mitmenschen das Bedürfnis nach Freundlichkeit, Kooperation,
Solidarität, den Wunsch, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse
nicht getrennt zu sehen von der Erfüllung der Bedürfnisse der
Anderen: aller Menschen.
Letztlich wünschen wir Frieden,
Freundlichkeit, ein Miteinander. Keinen Kampf bis aufs Messer –
zwischen Staaten, Klassen. Auch nicht mehr zwischen Beschäftigten
in einem Betrieb: Menschen, von denen jeder Angst hat vor Entlassung
und mit schlechtem Gewissen, pervers, „hofft“, es möge immer nur der
Andere sein, der gefeuert wird.
Wir ahnen aber, oder erfahren es
hautnah, auf der Straße, wenn wir unsere Sehnsucht nach dem Anderen,
Besseren, Humaneren artikulieren, daß diejenige an der Regierung
und all die wirtschaftlich Mächtigen hinter ihnen, die ihnen zuflüstern,
daß sie, die wir einbeziehen wollen in die Freundlichkeit einer menschlichen
Welt, ihre Einsatzkräfte, ja ihre Armee auszuschicken bereit wären,
um jeden realen Versuch von Veränderung, der bedeutsam wäre,
im Keim zu ersticken.
Wie Thoreau, wie Gandhi, wie Martin
Luther King, wie Mandela brauchen wir einen langen Atem.
Vielleicht sind wir in vielem einem
Reinhard Marx, der noch an Hierarchien, an Über- und Unterordnung,
an der Verteidigung von Privilegien festhält, nicht unähnlich.
In unseren Unzulänglichkeiten,
als Menschen.
Auch in unserer Hoffnung, die wir
– wie er – in Menschen setzen.
Daß ein Reinhard Marx seine
Hoffnung auf den Menschen, auf alle Menschen richtet,
ist ihm nicht vorzuwerfen.(56) Er
ist darin seinem Namensvetter Karl Marx näher als Orwell, denn Marx
ging von der Entfremdung aller Menschen (der Angehörigen
der Arbeiterklasse wie der Kapitalisten) aus und setzte seine Hoffnung
in die Möglichkeit der Emanzipation aller Menschen –
und durchaus nicht nur die der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der
Arbeiter. Als einziger Unterschied zwischen beiden Klassen, in Bezug auf
Entfremdung und Emanzipation, galt ihm, daß die herrschende, besitzende
Klasse sich in ihrer Entfremdung wohlfühlt, während die Angehörigen
der Arbeiterklasse an ihr leiden. Daß die einen, die Arbeiter, letztendlich
ein Bedürfnis nach (Selbst-)Befreiung verspüren müssten
und sich auch nur selbst befreien können, während die Anderen
alle Veränderung zum Besseren aus kurzsichtigem Eigennutz zu verhindern
suchen, war die wesentliche Erkenntnis.(57)
Es ist bekannt, daß Karl Marx
seinerzeit eine politökonomische Analyse und Kritik
der
von ihm beobachteten Produktionsweise anhand empirischer Daten darbot,
die er mit einer theoretischen Rekonstruktion der vorliegenden Klassenverhältnisse
verband. Im Kontrast zu allen sozialistisch orientierten Vorgängern
vermied er es strikt, einen Bauplan für eine andere, nicht mehr auf
Lohnarbeit gegründete, freiere, demokratischere Gesellschaft zu liefern.
Eine solche Zukunftsvision wäre Ausdruck eines idealistischen Dogmatismus
und bloße Utopie im schlechten Sinne des Wortes gewesen. Die Kritik
zeigte
die Schranken, Irrationalitäten, Unmenschlichkeiten einer gegebenen
Gesellschaftsordnung auf, die – wie viele heutige Philosophen, Ökonomen
und Soziologen feststellen – immer noch, trotz ihrer Dynamik, ihrer internen
Veränderungen, ihrer Flexibilität, im wesentlichen als kapitalistische
Wirtschaftsordnung weiter besteht. Sind wir nicht verpflichtet, nach neuen
Wegen zu suchen, wenn wir die Aufgabe ernst nehmen, das Unrecht infrage
zu stellen, zur möglichst weitgehenden Behebung des Mangel an realer
demokratischer Teilhabe der Massen beizutragen und die Irrationalität
des Marktes, der an den wirklichen Bedürfnissen oft
vorbei, nie um ihrer willen, oft Ressourcen verschwendend und Natur zerstörend
das Wachstum der Produktion, des Umsatzes, um des fetischisierten Profits
willen fetischisieren macht, zu überwinden?(58)
Wir, das sind alle Menschen, in einem gewissen Sinne, nämlich
der Möglichkeit nach. Und konkret, faktisch: die Erniedrigten, die
aufwachen, die aufstehen, erfüllt von dem Wunsch nach dem Guten. Nach
Selbstbestimmung. Nach gerechtem und vernünftigem und liebevollem
Umgang mit einander, mit den Resourcen, mit der Natur. Und die Privilegierten,
die bereit sind, sich von ihren Privilegien zu verabschieden und sich den
Anderen, von denen die Rede war, anzuschließen. Eine neue Welt ist
möglich, eine andere, gerechtere Gesellschaft, sagen inzwischen schon
längst viele der jungen Leute – nicht nur oder vor allem Studierende,
wie 1968. Und sie finden Weggefährtinnen und Weggefährten in
Menschen mittleren Alters und in nicht wenigen Alten.(59)
Bedeutet
es nicht eine menschliche Hoffnung, eine Chance, zu sehen: Alles ist offen,
nichts vorgeschrieben, festgelegt? Nein, nichts festgelegt und vorgezeichnet,
es sei denn, wir denken an die Begrenzungen und Beschränkungen, die
uns ein vor dem Umkippen stehendes Klima, fast schon leergefischte Meere,
die verpestete Luft der Städte und die fortschreitende Vergiftung
von Böden und Grundwasser auferlegen.
Die alten Versuche, das Neue zu
schaffen, sind an den Umständen und auch an Menschen, die irrten,
die zum Teil auch macht- und privilegienfixiert waren, gescheitert. Das
irritierte, das entmutigte einige eine Zeit lang. Es ist auch ein guter
Grund, sich von Fixierungen zu befreien. Wir sind wirklich aufgerufen,
als heutige Erdenmenschen, frei, demokratisch, solidarisch einen Weg zu
finden.
Kein fertiger Bauplan, also, der
leitet. Stattdessen: die Deliberation, die Debatte. Das gemeinsame
Nachdenken. Und das Besprechen der Probleme. Auch der Leiden, der
Beschwerden, die man vortragen wird. Schließlich die Erörterung
all dessen, was man vorbringen wird, an praktischen Lösungen, für
praktische Probleme. Sie sind es, solche Prozesse, die uns – dank der dann
gemeinsam getroffenen Entscheidungen – einen Schritt, einige Schritte weiter
bringen: so hoffen viele. Zu einer besseren, tendenziell guten
Gesellschaft, einer realeren Demokratie.
Anmerkungen
* Die hier benutzten Anführungszeichen ( »... «) sollen
ein »so genannt« (»so-called; soi-disant«), also
eine gewisse Distanzierung von einem Begriff andeuten. Etwa einen Hinweis
darauf, daß es sich um einen in mainstream Diskursen gängigen
Begriff handelt: damit bisweilen quasi um einen Topos, vielfach etwas Vages,
viele Interpretationen Zulassendes. Vielleicht auch etwas, das hinsichtlich
seiner Implikationen zu reflektieren wäre. Die gängigen Anführungszeichen
(„........“) besagen, daß es sich um ein Zitat handelt; eine Anmerkung
verweist in der Regel auf die Quelle. Eckige Klammern [.....] verdeutlichen
von mir in zitierte Passagen eingefügte gedankliche Ergänzungen,
Verdeutlichungen, bisweilen Kommentare. J.W.
(1)Auch die Schere zwischen »arm« und »reich«
geht in China längst, ganz wie in den sogenannten hochentwickelten
Ländern, eklatant auseinander. Auseinanderdriften von Boom-Zonen und
nicht nur stagnierenden, sondern relativ gesehen stark zurückfallenden
Regionen, Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wachsende
Ungleichheit, relativ Armut der Masse, Luxus bei Anhäufung riesiger
liquider Summen und Verfügungsgewalt relativ weniger über die
großen Unternehmen im privaten Sektor der Wirtschaft: ist das der
erhoffte Fortschritt?
Über die ökologischen Folgen unseres auch von China,
Indien und Brasilien – wenigstens in vieler Hinsicht – kopierten Wachstumsmodells
informierte soeben ein UN-Bericht. Siehe: Daniel Politi, “Ocean Life Facing
Mass Extinction”, in: Slate, 21.6.2011 http://slatest.slate.com/posts/2011/06/21/ocean_mass_extinction_report_warns_
of_unprecedented_losses.html?from=rss/&wpisrc=newsletter_slatest;
Sylvia Earle, “If the sea is in trouble, we are all in trouble”, in: The
Independent, 21.6.2011 http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/sylvia-earle-if-the-sea-is-in-trouble-
we-are-all-in-trouble-2300273.html; Jean-Luc Solandt, “The oceans
may
have already passed breaking point”, in: The Independent, 20.6.2011
http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/jeanluc-solandt-the-oceans-may
-have-already-passed-breaking-point-2300359.html ; Thair Shaikh,
“Marine
life facing mass extinction, report says”, in: CNN, 21.6.2011
http://edition.cnn.com/2011/WORLD/europe/06/21/ocean.extinction.global.warming/
(2) Siehe u.a., was die Vorbereitung der dann von Obama angeordneten
Zurücknahme von EPA-Bestimmungen zur Reduktion von carbon emissions
angeht, die folgenden Beiträge: (a) Ben Dimiero, “FOXLEAKS: Fox boss
ordered staff to cast doubt on climate science”, in: Media Matters
for America , December 15, 2010 http://mediamatters.org/blog/201012150004;
(b) “The opening salvoes have been fired in a new political battle in the
US over greenhouse gas emissions. Having failed to pass legislation through
Congress, President Obama wants the Environmental Protection Agency (EPA)
to regulate emissions. But draft measures before Congress seek to squash
the EPA's authority. Testifying to a congressional committee, EPA chief
Lisa Jackson said the bill ran counter to science [...]” Richard
Black, “New battle opens on US carbon emissions”, in: BBC 10 February
2011. http://www.bbc.co.uk/news/science-environment-12416621;
(c)“Another day of intense negotiations between the two parties failed
to yield a budget deal on Thursday, leaving the federal government hours
from a shutdown. [...] Also at issue were measures that would restrict
the regulatory powers of the Environmental Protection Agency, a favorite
target of Republicans since they took over the House, by preventing the
agency from enforcing significant portions of the Clean Air Act and regulating
carbon emissions." Carl Hulse, “No Accord in Budget Talks as Policy
Fights Hamper Deal”, in: New York Times, April 7, 2011, p. A1 (Online
version: http://www.nytimes.com/2011/04/08/us/politics/08congress.html?_r=1.
- Das Kürzel EPA steht übrigens für Environmental
Protection Agency: Umweltschutzbehörde.
(3) Cf. WDR5 Bericht am 20.Juni 2011. – Diese Strategie ist übrigens
ganz im Sinne der Nuklearindustrie, also der oligopolistischen Energiekonzerne
und der Atomreaktoren herstellenden, international tätigen Konzerne
wie Westinghouse, General Electric und Siemens, die scharf auf das profitable,
staatlicherseits mit Hunderten von Millionen von Dollars bzw. Euros subventionierte
Geschäft sind.
Manipulation der öffentlichen Meinung statt eine wirkliche Wende
ist angesagt. Schon der »Atomkompromiß« der rot-grünen
Regierung in Deutschland ließ übrigens – wie Skeptikern von
Anfang an klar war und wie sich dann auch für die Gutgläubigen
herausstellte – Türen für den »Ausstieg aus dem Ausstieg«
offen. Es ist klar, daß dasselbe für die derzeitige »Wende«
in der Atompolitik der schwarz-gelben Regierung unter Merkel möglich
bleibt. Was wird, ob die Wende tatsächlich erfolgt, ist bislang offen.
(4) Bezogen auf den „Faktor des Bösen im Leben“ schreibt übrigens
Jules Henry: „Es hat sich noch keine Kultur gefunden, in der nicht ein
permanenter feindlicher Faktor dazu diente, das Volk zu erschrecken und
zusammenzuhalten sowie abweichende Meinungen zu ersticken. Im Stammesleben
bestehen diese bösen Wesen aus Monstren oder Geistern und äußeren
Feinden, die aus Tradition als unaufhörliche Gefahr [...] gekennzeichnet
sind. [...] In unserer Zeit wird im Gegensatz zur Stammeswelt das Böse
nicht mehr durch Tradition festgelegt, und die Gruppe, die sich an der
Macht befindet, behält sich das Recht und die Macht vor, den Feind
zu bestimmen. Diese Bestimmung wird dann zu einem Teil des Sozialsystems:
Die Kinder in der Volksschule erhalten Unterricht über den Widersacher;
die Massenmedien rufen seinen Namen mit der nötigen Vehemenz aus;
der Feind geht in das Rechtssystem ein [...] Er nimmt den Charakter der
Unentrinnbaren an, den der primitiven Halluzination, und der Zweifel an
seiner Existenz zieht die uralten sozialen Sanktionen nach sich.
[...] Mit der Wahnvorstellung [von diesem Bösen] [...] wird die Grundtendenz
des Menschen ausgenutzt, einen Teil des Universums als böse zu kennzeichnen,
und zwar, um das [...] Volk kriegswillig zu machen.“ (J. Henry, S.57f.)
– Die Analyse mag das Problem des Bösen wie auch die gesellschaftliche
Basis aller abstrakt eine Polarität (oder binäre Struktur) von
»gut« vs. »böse« postulierenden Diskurse und
Ideologien nur partiell erfassen. Sie wirft aber ein bezeichnendes Licht
auf Dämonisierungen, wie sie – zumal in der US-amerikanischen Politik
– im Hinblick auf den Hauptgegner im Kalten Krieg, dann in Bezug auf Milosevic,
auf Saddam Hussein, auf die Taliban und schließlich Gaddafi ins Spiel
gebracht wurden. – Eine realistischere Auffassung als jene, die lediglich
in wenn auch begründeter Weise auf die Funktion eines »das Böse«
entäußernden, es isolierenden und »uns, den Guten«
gegenüberstellenden Diskurses abhebt, könnte die sein,
die im Menschen eine gleichzeitige, aber oszillierende, also in ihrem jeweiligen
relativen und absoluten »Gewicht« variable Existenz von
lebensbejahenden, kreativen und von destruktiven sowie autodestruktiven
»Impulsen« (unbewußten sowie bewußten Willens-Regungen
und/oder »Trieben«) annimmt, die auch auf Außenimpulse
antworten. Und zwar – in von der spezifischen psychischen Entwicklung (die
bislang zumeist in familiäre und damit gesellschaftliche Kontexte
eingebettet ist) und in von weiteren, meist später hinzutretenden
gesellschaftlichen Umständen bzw. Verhältnissen abhängender
Weise – in jedem Menschen. Und der Einzelmensch kann vielleicht verstanden
werden als denkender, fühlender, träumender – mit einem
Wort, als beseelter – Leib: als ein Leib/Bewußtsein-Kontinuum,
wie es Merleau-Ponty in seiner Philosophie der Leiblichkeit sah, die den
Leib/Seele- bzw. Körper/Kopf-Dualismus zugunsten einer monistischen
Auffassung aufzuheben sucht. Vielleicht ist dieser Mensch ja einem System
kommunizierender Röhren vergleichbar – in sich selbst, als Einzelwesen
und in Bezug auf die Gesellschaft, als das gesellschaftliche Wesen, das
er zugleich ist.
(Jules Henry, „Soziale und psychologische Kriegsvorbereitung“, in:
David Cooper, hrsg., Dialektik der Befreiung, Reinbek (Rowohlt) 1969, S.44-60)
(5) Reinhard Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen.
München (Knaur Taschenbuch) 2010
(6) Ebenda, S. 49
(7) Er bezieht sich z.B. in seiner Schrift u.a. auf Autoren wie Theodor
W. Adorno, Michel Albert, Manuel Castells, Jürgen Habermas, und Max
Horkheimer.
(8) Reinhard Marx, ebenda, S. 155
(9) Ebenda, S.154)
(10) Dafür sprechen in Italien soziale Bewegungen wie die der carbonari
und illuminati, die in den Revolutionen in Palermo und Neapel den Zündfunken
lieferten, in Frankreich die Bünde der Anhänger Blanquis, Cabets,
St. Simons, Proudhons, das Feuer der Aufstände 1830-31 und 1848, in
Deutschland und noch mehr unter deutschen Handwerkern in Paris, Zürich,
Brüssel und London die weite Verbreitung vor allem französischer
radikaler Ideen durch Max Grün, Weitling und andere, und schließlich,
im Anschluß und als Weiterführung des Bundes der Gerechten das
Entstehen der Strömung, die mit den Namen von Ruge, Marx, Engels,
Heinrich Heine usw. verknüpft ist. Gerechtigkeit war ein zentrales
Anliegen des einfachen Volkes; der Jesuit in Palermo, dem Reinhard Marx
das Kreieren des „neuen Begriff[s]: soziale Gerechtigkeit“ zuschreiben
möchte (Ebenda, S.154), griff das Thema lediglich auf.
(11) Man denke an die Zehntausende von indignés auf dem Puerta
del Sol Platz in Madrid, an die große Zahl der Protestierenden in
Barcelona und vielen anderen spanischen Städten, an Hunderttausende
Griechen, die in Athen, Thessaloniki, Patras, auf Kreta etc. auf die Straße
gehen, an Proteste in Italien, an die, welche in Deutschland und Großbritannien
und anderswo skandieren: „Wir zahlen nicht für eure Krise“, nicht
zuletzt an fortschrittliche katholische Protestierende, die sich z.B. Disarm
Now und Justicia y Paz verbunden fühlen.
(12) Reinhard Marx, ebenda, S. 155
(13) Das ist ein entscheidender Punkt. Die katholische Sozialethik,
in ihrer dominanten Version, läuft gerade auch im derzeitigen -
von jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit, Massenverarmung, und
in immer schnellerer Folge auftretenden Krisen geprägten – europäischen
Kontext hinaus auf eine prinzipielle, wenn auch Kritik an sogenannten »Exzessen«
zulassende – Verteidigung des Status Quo. Es geht einem Autor und Funktionsträger
der Amtskirche wie Reinhard Marx dabei ganz klar um den Versuch einer weiteren
Festigung eines inzwischen längst bröckelnden gesamtgesellschaftlichen
Konsenses, der sich als auf diesen flexiblen Status Quo eingeschworen erweist:
auf die „Marktwirtschaft“, auf das „Eigentum“ der Unternehmer und Unternehmen,
auf ihre Eigentumsrechte, einschließlich des Rechts auf Gewinn, wobei
aber (wirkungslos, ohne auch nur im entferntesten an praktische Gegenmaßnahmen
zu denken, geschweige denn, sie energisch vorzuschlagen) das Exzessive
derselben und in Einzelfällen die fehlende soziale Verantwortung von
Unternehmen beklagt werden darf. Solche Zulassung von Kritik entlastet
das Gewissen – und stabilisiert, so scheint gehofft zu werden – vielleicht
noch einmal den Konsens und die Illusion des fairen Interessenausgleichs,
zwischen den wenigen »oben« und den vielen »unten«.
(14) Bei Reinhard Marx heißt es dazu: „Einerseits werden Kreativität,
Eigenverantwortung und die Freiheit des Menschen und damit auch der Markt
und die Wettbewerbsordnung bejaht. Aber es werden auch solidarische gesellschaftliche
Strukturen [außerhalb des Marktes mit seiner Konkurrenz, seiner Ungleichheit
der Marktmacht der Marktteilnehmer, also außerhalb der Arbeitswelt
und außerhalb weiterer wichtiger Bereiche der Lebenswelt der Unteren,
soweit sie nämlich Kunden, Mieter, Käufer des Zugangs zu Kulturveranstaltungen
etc. sind] und ein starker, dem Gemeinwohl verpflichteter Staat gefordert.“
[Hinzufügungen in eckigen Klammern immer von mir, JW] Dieses
„einerseits – andererseits“, diese Verbindung einer auf Konkurrenz, auf
Gegeneinander statt Solidarität gegründeten harten und kalten
Wirtschaftsordnung, die Unternehmern wie Beschäftigten „Eigenverantwortung“
(rette sich, wer kann – das Leben) abverlangt, mit „sozialstaatlichen Instrumente[n]“,
mit „sozialen Sicherungssysteme[n]“ und auch einem adäquaten (aber
nicht weiter präzisierten) Steuersystem macht den Kern des Konzepts
aus. (Reinhard Marx, ebenda, S.183) - Die begriffliche Koppelung
von »sozial« und »Markt« wird offenbar als fast
schon hinreichender Ausdruck einer fairen und ausgewogenen, auf Interessenausgleich
bedachten politischen Position verstanden, ohne daß die Apologeten
dieser Ordnung zur Kenntnis nehmen, daß ganz im Sinne der filtering
down Theorie den Unteren immer nur die vom Tisch der Herren fallenden Brosamen
zugedacht waren und daß selbst in Bezug auf diese das Prinzip der
sozialen Kälte und der austerity inzwischen auf sehr heftige und unmißverständliche
Weise Einzug gehalten hat. Wenn die »sozialen Marktwirtschaft«
des sogenannten rheinischen Kapitalismus im »sozialdemokratischen
Jahrzehnt« (ca. 1965-75) die Klassenantagonismen milderte und
in ein rosa Licht tauchte, so ist inzwischen längst jene Härte
eines Klassenkampfs von oben gegen die Unteren zurückgekehrt, die
schon weite Teile des 19.Jahrhunderts und die Jahre der Great Depression
im Anschluß an den Börsencrash von 1929 ausgezeichnet hatte.
Man muß allerdings zugeben, daß die de facto realisierte Ordnung
nicht das größtmögliche Gute, das dem Sozialethiker Reinhard
Marx wünschenswert erscheint, bereits erreicht ist. Er hält fest:
„Was mir vor dem Hintergrund dieses [das in Deutschland Erreichte wohlwollend,
wenn nicht apologetisch beschreibenden] Denkens [als Orientierung oder
Ziel] vorschwebt, ist eine solidarische Marktordnung.“ (Ebenda, S.183)
Ist das, was dieser Begriff ausdrückt, aber nicht ein Widerspruch
in sich, weil darin die Marktdynamik verkannt wird?
(15) Reinhard Marx, ebenda, S.184
(16) Eine nicht vor allem das Eigentum des Einzelnen als zentrales naturrechtliches
Moment verstehende Auffassung des Naturrechts findet sich bei Ernst Bloch.
Siehe: Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main
(Suhrkamp) 1985; Französ. Ausgabe: Droit naturel et dignité
humaine, trad. de l'allemand par Denis Authier et Jean Lacoste, Paris(Éd.
Payot et Rivages) 2002 ; English edition: Natural Law and Human Dignity,
transl. by Dennis J. Schmidt, Cambridge MA (MIT Press)1986
(17) Reinhard Marx, ebenda, S.157
(18) Ebenda, S.157
(19) Estes Kefauver, In a few hands. Monopoly Power in America.New York,
NY (Pantheon Books) 1965. [Paperback edition: Harmondsworth (Penguin Books)
1966]
(20) Also, armer Schlucker, arbeite auch wie die Mellons, Morgans,
Rockefellers, wie vor kurzem noch die Lehman Brüder, wenn du, wie
sie es können oder konnten, „Vorteile“, die sich auf Hunderte von
Millionen, vielleicht sogar auf eine Milliarde Dollar belaufen,
dein Eigen nennen willst. - Läuft die Argumentation des Sozialethikers
nicht darauf hinaus? Siehe Reinhard Marx, ebenda, S. 157
(21) Vgl., um des Kontrastes willen, die Position von Ivan Illich, der
nicht im Interesse der herrschenden Sozialpolitik die Arbeitslosen abstrakt
zur Eigenverantwortlichkeit für ihr Schicksal aufruft, sondern konkret
für ihre Rechte eintritt: Ivan Illich , Le Chômage créateur:
postface à "La Convivialité" / Ivan Illich; traduit de l'anglais
par Maud Sissung, Paris ( Éditions du Seuil) 1977. [Traduction de
: The Right to useful unemployment and its professional enemies]
(22) Reinhard Marx, ebenda, S. 157
(23) Fleiß, Kreativität, Wagemut: Dies sind alles Begriffe,
die Reinhard Marx zur Charakterisierung der »Arbeit« des Unternehmers,
die sein selbst erarbeitetes Eigentum als Summe der aus seinem Tätigsein
erwachsenen »Vorteile« begründet, einfallen. – Ebenda,
S.157
Was den oben angedeuteten kreativen und wagemutigen Bruch von Gesetzen
angeht, so sei etwa an das Akquirieren von Großaufträgen im
Ausland durch Bestechung erinnert, das kürzlich wieder – im Fall von
Siemens (ein Unternehmen von vielen, das aber erwischt wurde) – Schlagzeilen
machte, an das trotz einer gegenteiligen Verfügung des Eisenbahnbundesamtes
begonnene Abreißen des denkmalgeschützten Stuttgarter Hauptbahnhofs
durch die Deutsche Bahn AG (wobei man einem Gericht das bereits eingegangene
Schreiben des Eisenbahnbundesamts vorenthielt, als Bürger wegen der
Illegalität des Vorgehens einen Stop der Abrißarbeiten gerichtlich
durchzusetzen versuchten); an das wenig integre Verhalten der Deutschen
Bahn AG, die trotz der letztes Jahr im Mediationsverfahren gemachten Zusagen
ungerührt an dem S-21 Projekt weiter arbeiten läßt; an
die trotz der Feststellung der Illegalität durch ein Gericht kaltblütig
weitergehenden Arbeiten an einem Kohlekraftwerk am nicht nur formal (planungsrechtlich)
unzulässigen, sondern durch ein Ammoniaklager materiell die Anwohner
extrem gefährdenden Standort bei Datteln. (Der Standort des
Kohlekraftwerks bei Datteln wurde, einem Bericht des WDR zufolge, durch
das Unternehmen eigenmächtig um 5 km bis dicht an eine existierende
Wohnsiedlung verschoben. Man hat bereits viel Geld verbaut, um Fakten zu
schaffen. Die »Politik« und der Kommunalverband Ruhr überlegen
derzeit offenbar, wie sie eine flagrante primäre Rechtsverletzung
und anschließende Rechtsbeugung in Gestalt des offenkundigen unternehmerischen
Ignorierens eines gerichtlichen Verbots, weiterzubauen, zum Nachteil der
direkt betroffenen Bevölkerung durch Verfahrenstricks legalisieren
können.)
(24) Reinhard Marx, ebenda, S.157
(25) Ebenda, S.157 – Das Recht der Unternehmen bzw. Unternehmer auf
eine „Chance auf Gewinn“ – in der Praxis, auf den maximal möglichen
– ist der derzeit dominanten Interpretation der katholischen Sozialethik
zufolge zu verstehen als ein aus dem Eigentum, also dem Eigentumsrecht
des Unternehmers bzw. der Aktionäre, abgeleitetes Recht.
(26) Ebenda, S.184
(27) Ebenda, S.184
(28) Ebenda, S.231
(29) Ebenda, S.184
(30) Ebenda, S.240
(31) Auf die unter Reagan, den beiden Bushs, aber auch unter Clinton
mehr oder weniger systematisch betriebene Politik der Schwächung der
US-amerikanischen Gewerkschaften hat u.a. Noam Chomsky wiederholt hingewiesen.
Es waren einzelne Firmen wie Caterpillar und American Airlines, die offenbar
zunächst mit rigorosen, die geltenden Arbeiterschutzgesetze (labor
acts) mehr oder weniger systematisch brechenden Praktiken vorangingen,
was der breit angelegten Attacke auf die Beschäftigtenrechte den Weg
bahnte. In Großbritannien brach die Thatcher-Regierung anläßlich
des großen Bergarbeiterstreiks der britischen Gewerkschaftsbewegung
fürs erste den Rücken, und zwar durch Privatisierung der staatlichen
Minen und Änderung der gesetzlichen Grundlagen bezüglich des
Streikrechts. Erst neuerdings entstehen neue, kleine, »flexibel«
militante Gewerkschaften, die wieder erfolgreich Arbeitskämpfe führen
können. In Frankreich hat das Patronat auf seine Weise längst
für einen niedrigen Organisationsgrad der Beschäftigten gesorgt.
Die Stärke und Militanz der Gewerkschaften zeigt sich im öffentlichen
Sektor: nach der Privatisierung von Renault vor allem bei den Beschäftigen
des Energieunternehmens EdF und bei der Staatsbahn SNCF – also bei zwei
Unternehmen, auf deren baldige Privatisierung sowohl die Europäische
Kommission (eine Kommission im Dienst der Konzerne, beflügelt von
einer neo-liberalen Ideologie) und die konservative Sarkozy-Regierung setzt.
In Deutschland hat die in der jungen Bundesrepublik unter konservativen
Regierung geschaffene gesetzliche Grundlage, die Aussagen zur Friedenspflicht
macht, auf dem Wege der Mitbestimmung integriert und politische Streiks
illegalisiert, vor allem aber Gewerkschaften für etwaiges, die Unternehmen
»unzulässig schädigendes« Verhalten finanziell haftbar
macht, Jahrzehnte lang für eine Zähmung der Arbeiterbewegung
gesorgt, wobei Unzufriedenheit der Unteren wie in den Niederlanden durch
korporatistisches Aushandeln von (vor allem tarifbezogenen) Kompromisses
gedämpft wurde. Nur in den späten 60er und frühen 70er Jahren
gab es der gewerkschaftlichen Kontrolle entglittene, militante wild cat
Streiks, etwa bei Opel in Bochum, bei Ford in Köln und bei Mercedes.
Im Kontext der seit den 90er Jahren veränderten politischen und gesamtwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen, die weltweit zu verstärkten Privatisierungsbemühen
und Deregulierungsvorhaben sowie neuen, ungewöhnlich scharfen Angriffen
auf den Lebensstandard der Beschäftigten führten, hat die rot-grüne
Regierung in Deutschland während der wenigen Jahre ihrer Amtszeit
durch ihre Deregulierung des Arbeitsmarkts und die begleitende Politik
des Sozialabbaus mehr zur Schwächung der Gewerkschaften und dadurch
indirekt zum Verlust des Vertrauens der Beschäftigten in die Fähigkeit
der Gewerkschaften, ihre Rechte zu schützen, beigetragen als dies
die konservative Regierung unter Kohl angesichts des befürchteten
Widerstands in ihrer Amtszeit je gewagt hat. Die Phase korporatistischen
Aushandelns ist daher – wenigstens in der Tendenz – einer neuen
Ära des tendenziellen Unternehmer-Diktats gewichen.
(32) Reinhard Marx, ebenda, S.157
(33) Ebenda, S.157
(34) Was das Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit in den sogenannte
hochentwickelten Industrieländern des Westens angeht, so ist übrigens
daran zu erinnern, daß es von den offiziellen Statistiken in der
Regel verschleiert wird. In den USA liegt die von kritischen Wissenschaftlern
berechnete reale Arbeitslosenquote mit etwa 23% im nationalen Durchschnitt
weit über dem von der Regierung zugegebenen Wert. In Ländern
wie Deutschland ist es zumindest der Tendenz nach ähnlich. Hinzu kommt,
daß »Erfolge der Arbeitsmarkt-Politik« oft mit Tricks
ergaukelt werden. Die Clinton-Regierung war »sehr erfolgreich«
bei der Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit, indem sie (1.) durch Änderung
der Definition von »Arbeitslosigkeit« viele Menschen aus der
Statistik fallen ließ; (2.) überhaupt die direkte, auf komplizierte
Berechnungen verzichtende Vergleichbarkeit der statistischen Werte, die
vor und nach ihrer »Reform« erhoben wurde, verunmöglichte;
(3) u.a. durch Schaffung von public works Programmen Billiglohn-Jobs in
erheblicher Zahl schuf, was z.B. zu befristeten Stellen für alleinerziehende
Frauen, denen die Sozialhilfe entzogen wurde, führte. Solche Jobs
mit z.T. niedrigsten Anforderungen bezüglich der Qualifikation waren
nicht unbedingt sinnvoll, wenn etwa zwei zur Absicherung einer Straßen-Baustelle
eingesetzte Personen lediglich die Funktion einer automatischen Ampel-Anlage
übernahmen. Die Strategie, die Werte der Arbeitslosen-Statistik nach
unten zu drücken, um politisch einen Erfolg reklamieren zu können,
führte neben einem starken, so vorher seit den 1930er Jahren nicht
mehr gekannten Anstieg der working poor zu einem erschreckenden Anstieg
der Zahl der Obdachlosen, wobei es sich nun nicht mehr um bums, hobos,
alcoholics, also vom Leben schon lange aus der Bahn Geworfene oder »freiwillig«
die »Freiheit« des Unterwegs-Seins Suchende handelte. Sondern
um Menschen, die vielleicht vor einem Jahr noch eine reguläre Arbeit
gehabt hatten und vor kurzem noch ein Haus oder eine Wohnung. – In Deutschland
hat die Wende von 1989/90 eine ähnliche Entwurzelung vieler, vor allem
junger Menschen aus der ehemaligen DDR hervorgebracht. Und der »tolle
Reformeffekt« der Schröderschen Arbeitsmarkt- und HartzIV Reform
war neben dem Abbau der Zahl regulärer, nicht befristeter und tariflich
entlohnter Vollzeit-Arbeitsplätze das enorme Anschnellen der Zahl
der arbeitenden Armen, von denen diejenigen, die unter eine bestimmte,
sehr niedrig angesetzte Einkommensgrenze fallen, den Anspruch auf staatliche
Transferleistungen haben, die materialiter eine indirekte Lohnsubvention
für die Unternehmer darstellen. Direkte Lohnkostenzuschüsse für
das – de facto fast immer befristete – Einstellen von Langzeitarbeitslosen
kommen hinzu; auch diese Maßnahme hatte, ebenso wie die Legalisierung
nicht-sozialversicherungspflichtiger 400-Euro-Jobs, z.T. den Effekt,
daß nicht wenige Betriebe Vollzeitarbeitskräfte entließen,
um lohnsubventionierte ältere Langzeitarbeitslose und/oder nicht-sozialversicherungspflichtige
400 Euro brutto im Monat verdienende Kräfte einzustellen. Es ist zu
fragen, ob »prekäre« Arbeitsverhältnisse, unfreiwillige
Teilzeit, aufgezwungene Tätigkeit als Leiharbeiter ebenso wie das
»Parken« von Menschen in Transfergesellschaften und in oft
sinnlosen Umschulungsmaßnahmen nicht allesamt geeignet sind, das
tatsächliche Ausmaß der von der Wirtschaft produzierten »Redundanz«
zuvor voll und ganz berufstätiger Menschen zu verschleiern.
(35) Reinhard Marx, ebenda, S.183
(36) Ebenda, S.180
(37) Im Fall von Griechenland - ein Land, dessen Wirtschaftselite im
Bankensektor und im Schiffahrtssektor, aber auch mit der Immobilienspekulation
viel Geld verdient, andererseits aber oft im Ausland residiert und schon
deshalb kaum oder gar keine Steuern zahlt – steht die sozialdemokratische
Regierung angesichts der Staatspleite mit dem Rücken zur Wand; die
private lenders verlangen inzwischen bei griechischen Staatspapieren eine
Rendite von etwa 30 Prozent pro Jahr, bei gleichzeitigen flankierenden
Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen
Zentralbank, die das Risiko mindern sollen. ( ) Es ist kein
Geld da? Ach was: „il mercato dei bond è «molto liquido»“
- der Markt für Staatsanleihen ist äußerst liquide.
(Peter Allwright von RWC Partners, zitiert bei N.N, „Standard & Poor's
taglia rating di Grecia e Portogallo“, in: L’Unità, 29.März
2011 http://www.unita.it/economia/standard-poor-s-taglia-rating-di-grecia-e-portogallo-1.279541
) Das heißt, die Investoren verfügen über riesige finanzielle
Mittel: es ist lediglich die öffentliche Hand, die angesichts der
jahrelangen Bereitschaft, die Unternehmen und die wirklich Reichen steuerlich
zu entlasten, de facto überall mehr oder weniger pleite ist.
(38) In den USA sind z.B. die Reallöhne zwischen 1973 und den frühen
90er Jahren um ein Drittel gesunken; diese Tendenz wirkt fort.
In der Euro-Zone ist es, als Effekt der Euro-Einführung, zu einer
Kaufkraftabschöpfung bei den breiten Massen in Höhe von etwa
40-50 Prozent der zuvor verfügbaren Kaufkraft gekommen. In Bezug auf
Deutschland kann man sagen: D-Mark Löhne, im Verhältnis zwei
zu eins umgerechnet (vorher zwei DM, nach der Umstellung 1 Euro),
stagnierten als Euro-Löhne, sanken zum Teil auch durch Wegfall außertariflicher
Leistungen und stiegen in einigen Branchen nominal wieder leicht an. Es
änderte sich in der längerfristigen Tendenz – abgesehen vom Wegfall
des Weihnachtsgelds, des Urlaubgelds, der Überstundenzuschläge,
des in einigen Betrieben gezahlten 13. Monatsgehalts – nicht viel; jedenfalls,
wenn der Normalarbeitsplatz erhalten blieb. Bei den Preise der Güter
des täglichen Bedarfs, auch bei den Mieten, pendelte sich bald
tendenziell eher ein Umrechnungskurs von 1:1 ein (vorher 1 DM, nach der
Umstellung 1 Euro). Die Energie- und Wasserkosten sind eine Sache
für sich; hier realisieren vor allem die vier großen oligopolistischen
Stromkonzerne horrende Extraprofite; die Preisentwicklung ist entsprechend.
In das Geschäft mit der Wasserversorgung sind Konzerne wie Veolia
eingestiegen.
Der von den Statistiken und den Medien verschleierte, von den Betroffenen
aber sehr wohl im Portemonnaie zu spürende Effekt des realen Preisschubs
im Gefolge der Euro-Einführung war um so größer, je geringer
das Familieneinkommen war und je weniger das Familienbudget daher verwandt
wurde zum Kauf sogenannter langlebiger Konsumgüter.
Hinsichtlich der langlebigen Konsumgüter verhinderte der Kampf
der Konzerne um Marktanteile in einem stagnierenden oder schrumpfenden
Marktsegment eine ähnliche Entwicklung der Preise wie bei den Gütern
des täglichen Bedarfs; die gedämpfte Preisentwicklung bei diesen
für die breiten Massen bestimmten, aber dennoch relativ teuren langlebigen
Konsumgütern und ihr Einbezug in den statistischen Warenkorb
von Personen, die sich diese Güter längst nicht mehr leisten
können, verharmlost das Ausmaß der von den unteren Einkommen
erlittenen realen Preisinflation.
Das Wegbrechen des Erwerbs mittel- und langlebiger Konsumgüter
bei den Beziehern niedriger Einkommen betraf bei den Erwerbstätigen
unter ihnen übrigens nicht den Erwerb von Autos, die ein wage good
darstellen, insofern sie häufig zur Erreichung des Arbeitsplatzes
notwendig sind. Wegen ihrer altersbedingten Mängel nicht mehr im Straßenverkehr
zulässige Fahrzeuge dieses Personenkreises wurden durch geleaste,
also in erheblichem Maße von den Automobilproduzenten kreditfinanzierte
Kleinwagen ersetzt, wobei die Regierung dies zeitweise durch ein »Verschrottungsprämie«
förderte.
(39) In den USA hatten republikanische Vorgänger von Obama
krasse Steuererleichterungen für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen
durchgesetzt. Aber unter Obama wird das fortgesetzt. Siehe:
“The White House and the GOP are quietly working out a deal that would
extend the Bush tax cuts [...] , reports the Washington Post [on Dec.3,
2010]” (N.N., “White House and GOP Moving To Extend Tax Cut”, in. Slate
http://slatest.slate.com/id/2276676/?wpisrc=newsletter
). Siehe auch: David S.Herszenhorn, “ Congress Sends $801 Billion Tax Cut
Bill to Obama”, in: New York Times, Dec.16, 2010, p. A1 http://www.nytimes.com/2010/12/17/us/politics/17cong.html?_r=1&hp.
- In Europa, auch in Deutschland, wird dieselbe Politik verfolgt,
übrigens auch von sozialdemokratischen Regierungen.
(40) Die Militärausgaben der USA machen ca. 5/8 der diesbezüglichen
Ausgaben aller Mitgliedsländer der NATO aus. Kritische Wissenschaftler
gehen von einer Billion US-$ (one trillion dollars) pro Jahr aus.
Zugegeben werden rund 700 Milliarden US-$. Die Auflösung des Warschauer
Paktes und das Ende des Kalten Krieges hätten eine Möglichkeit
zur immensen Einsparung öffentlicher Mittel auf diesem Sektor eröffnet,
wenn der Wille dazu bestanden hätte. Das wurde durch die amerikanische
Sabotage einer Verhandlungslösung für den Kosovo-Konflikt,
den provozierten letzten Irak-Krieg sowie den 9/11 Vorfall, dessen
Umstände weitgehend unklar bleiben, hintertrieben. Zum derzeitigen
US-Rüstungsetat, der trotz enormem Budget-Defizit von der US-Regierung
erhöht wurde, siehe auch: “The Obama administration's proposed
defense budget for fiscal year 2012, rolled out Monday afternoon by Secretary
of Defense Robert Gates […] amounts to $702.8 billion, broken down
as follows: $553 billion for the baseline discretionary Defense Department
budget, $5 billion for a handful of mandatory programs, $117.8 billion
for the costs of the wars in Afghanistan and Iraq, and—a category usually
omitted in these sorts of analyses but clearly laid out in the tables of
the White House budget office—$27 billion for "defense-related" programs
in other federal departments, nearly half of it for nuclear-weapons labs,
reactors, and warhead maintenance in the Department of Energy.[…]
[T]hat $553 billion baseline is vulnerable—all the more so, as it's a bit
larger than last year's amount, and because it's stuffed with items that
are beginning to make some analysts wonder: What does all this have to
do with war and peace in the 21st century? […] this budget includes
$24.6 billion for 11 new ships, including $4 billion for two new Virginia-class
submarines and $1 billion for the down payment on a new aircraft carrier.[…]
Fred Kaplan, “ The brewing battle over the defense budget”, in: Slate,
Feb. 14, 2011 http://www.slate.com/id/2285080/
(41) Reinhard Marx, ebenda, S. 209
(42) Ebenda, S.180
(43)Ebenda, S.208)
(44) Ebenda, S. 209
(45) Ebenda, S.234
(46) Ebenda, S.157, S.241
(47) Ebenda, S.186 – Selbstverständlich hat Reinhard Marx in diesem
Punkt recht: Beides – Arbeitslosigkeit wie das Arbeiten für einen
Hungerlohn, wozu man viele zuvor Arbeitslose zwingt, ist entwürdigend.
Wie würdevoll oder entwürdigend »Normalarbeitsverhältnis«
sind, dazu müßte man Betroffene hören, statt zu spekulieren.
Selbstverständlich ist in der Regel das »Normalarbeitsverhältnis«
dem »prekären Job« vorzuziehen, aber ist das ein Grund,
es zu idealisieren?
(48) Ebenda, S. 241
(49) Ebenda, S.179
(50) Ebenda, S.176
(51) Ebenda, S.174; S. 183
(52) Ebenda, S.176
(53) Eine von Jean-Marie Straub gern benutzteWendung, die den ganzen
berechtigten Zorn über die Mediokrität, ja Dummheit gepaart mit
Arroganz, vieler sogenannter Experten (und Bürokraten) samt ihrer
public relations Leute ausdrückt.
(54) Reinhard Marx, ebenda., S.174 – Gut leben: das impliziert doch
dies, den doppelten Wortsinn, daß wir versuchen, als Gute bzw.
das Gute Suchende zu leben, und zugleich uns sehnen danach und danach streben,
nicht in entwürdigenden Verhältnissen, nicht im Elend zu leben.
(55) V. Davies gibt eine kurze Zusammenfassung dessen, was Vorschein
bei Ernst Bloch meint: „The preilluminative day-dream Bloch
calls Vorschein. Vorschein also
carries the meaning in German of ‘to bring to light’, ‘to glimpse’,
‘to appear’.
This day-dream, then, brings to the surface a glimpse of what is otherwise
concealed within ‘the darkness of the lived moment’ […] .
Vorschein emerge from the everyday but are intrinsically linked to
something
non-contemporary: an eruption of the future into the present, which
opens it up to
the New or Novum. These New or buried aspects which exist beneath the
surface
of the everyday, these future-oriented possibilities, reside within
what Thompson
describes as the ‘subaltern’ when he tells us that for Bloch these
possibilities have
always been present on the journey toward home, and although they are
deeply
buried they nonetheless can be found within religion and within the
self
(Thompson 2009, xxviii). These day-dreams, or utopian trace-images,
correlate to
what Bloch calls ‘real’ possibility […]” (Victoria DAVIES, Chapt.
9, « The Future is Latent in the Present: A Phenomenological Interpretation
of Ernst Bloch’s Atheistic Eschatology (With Emphasis on the Image)
», in: The Present Moment - An Interdisciplinary Conference
for Postgraduates in Theology. ORA Conference. Sept. 2010, Oxford
University, Conference/Workshop Papers, chapt. 9, pp.124-140, hier:
S. 128).- Vgl. Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main (Suhrkamp)
1985 [English edition: Ernst Bloch, The Principle of Hope. 3 Vols. Translated
by Neville Plaice, Stephen Plaice and Paul Knight. Oxford (Basil Blackwell)
1986] – Siehe auch: Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen, Teil
1: Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins. Ein Vortrag und 2 Abhandlungen.
Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1961
(56) Ich beziehe mich hier auf den schon zitierten Satz, also den Bezug
auf I. Kant und das daran Anknüpfende bei Reinhard Marx. Ebenda, S.174
(57) Zu dieser auto-emancipation der von der Lohnarbeit zu leben
gezwungenen Menschen ist übrigens laut Marx zwar Selbstorganisation,
aber keine Partei im heutigen Sinne, also auch keine KP, zwingend erforderlich
und sie könnte sich erst recht nicht, sich auf Marx berufend, eine
Führungsrolle anmaßen. Sie, die multitude der Ausgebeuteten,
die Menge der Lohnarbeiter – sofern sie für Veränderung, für
Aufhebung der Lohnsklaverei, für befreites Leben und Arbeiten eintretende
Menschen sind – waren in Marxens Terminologie »die proletarische
Partei«, das sich erhebende Volk, das auf der einen Seite der
Barrikade steht, und keine Gruppierung, keine Partei im heutigen Sinn verdiente
bei ihm diesen Namen Partei, während andererseits die »Partei
der Reaktion« aus der Masse der das Eigentum verteidigenden Bürger,
mit Einschluß der Unternehmer, der Kapitalisten bestand. Und zwar
ganz gleich, ob sie nun Liberale, Konservative, Freimaurer, Erzklerikale
oder Royalisten waren – sie bildeten, informell, aber geeint durch ihre
wesentlichen Interessen und einig in ihrem grundsätzlichen Ziel der
Bewahrung des Bestehenden, also ihrer Macht, ihrer politischen Privilegien,
ihres Eigentums, »eine Partei«.
(58) Auch Reinhard Marx fordert ein den wírklichen Bedürfnissen
gerecht werden. (Reinhard Marx, ebenda, S.179) - Der heute bei Ökologen,
Befürwortern einer nachhaltigen Weise, zu wirtschaften (sustainable
economy) und Kritikern des Konsumismus gängige Begriff der ‚real needs’
(wirklichen Bedürfnisse) verdankt sich übrigens der Marxchen
Analyse des Fetischcharakters der Ware, seiner Unterscheidung von Gebrauchswert
und Tauschwert und späteren, daran anknüpfenden Überlegungen
Herbert Marcuses. Eine nicht länger (auto-) destruktive Produktionsweise,
die den Menschen wie auch die natürlichen Ressourcen schont, ist nicht
denkbar ohne eine demokratische Feststellung der verfügbaren Ressourcen,
eine gesellschaftliche, alle einbeziehende Debatte bezüglich der wirklichen
Bedürfnisse (was auf Schrumpfung statt Wachstum des Ressourcenverbrauchs
und der Produktion hinauslaufen würde, da die künstlich erzeugten,
» falschen « (ja, falschen!), dem Überflüssigen
und der Verschwendung zuzurechnenden Bedürfnisse bei freier, aber
vernünftiger und verantwortlicher, gemeinsam getroffener Entscheidung
wegfallen würden), und sie ist letztlich angewiesen auf eine dank
moderner Kommunikationstechnologie und Vernetzung flexibel justierbare
Abgleichung von jeweiligen Produktionszielen und jeweils sich äußerndem
Bedarf, bei gleichzeitiger Koordinierung dezentral bzw. lokal organisierter
Produktion und durch Vernetzung geregeltem Austausch (gegenseitige Hilfe).
Also auf eine weder zentrale noch dezentrale, sondern neuartige, auf vernetzter
real time Information und demokratischen Entscheidungen über Ziele,
Mittel, und Prioritäten beruhende Planung von unten, die das Gegenteil
der bürokratischen Planung zentralistisch organisierter etatistischer
Regimes wäre.
(59) Eben das ist auch die Erfahrung, welche die Menschen derzeit in
den Vollversammlungen auf den zentralen Plätzen in Kairo, Madrid,
Athen machen.
Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
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