J. Weidenfels

Die katholische Soziallehre, die »Wirtschaft«, die repräsentative Demokratie und die Partizipation

War es nicht gestern, oder vor wenigen Jahren? Da warfen manche – und es waren nicht wenige – allen möglichen Reformern, vor allem aber den Linken jedweder Art und Farbe, ja, all denen, die von einer anderen, gerechteren Welt sprachen, vor, sie hätten ein idealistisches, weltfremdes » positives Menschenbild«.* Die Menschen seien einfach nicht so, daß eine bessere, gerechtere Welt – etwas, das nicht auf der schrankenlosen ökonomischen Konkurrenz und der Antriebskraft des Wunsches nach privater Bereicherung fuße – möglich sei. Vermutlich auch keine realere Demokratie als die heutige, »repräsentative«, die den wirtschaftlich Mächtigen große Einflußmöglichkeiten bietet und der Masse der Bevölkerung das Recht, zur Wahl zu gehen, um sich nach der Wahl von der politischen Klasse in wesentlichen Fragen übergangen zu sehen.

Wunsch nach privater Bereicherung, o ja! In China kam der Pessimist Deng Hsiao-ping auch zu dem Schluß, daß darin eine Antriebskraft wirtschaftlicher Entwicklung zu sehen sei.

„Bereichert euch!“, wurde eine dem „Yes, we can!“ der »public relations Leute« Obamas vergleichbare, populistische Parole. Eine, die anheizt. Eine, die verschleiert in ihrer vagen Weise, etwas anzudeuten.

Muß man eigentlich noch die Frage stellen, ob die chinesischen »Macher«, diese versierten »Pragmatiker«, in ihrem Versuch, »unser westliches (Wirtschafts-) Modell« zu kopieren und uns dabei in jeder Beziehung zu überholen, längst dieselben für Mensch und Umwelt – zumindest auf Sicht – katastrophalen Fehler machen wie »wir« (»der Westen«)? Das heißt, wie die hier bei »uns«  die Entscheidungsmacht in den Händen Haltenden, die sich übrigens ganz ähnlich gegen eine wirkliche Wende wehren wie ihre fernöstlichen Imitatoren?(1)

Wenn Kritiker der globalen Entwicklung auf bedrohliche Fehlentwicklungen hinweisen, treffen sie auf Widerstand.

Dieser Widerstand ist übrigens nicht nur an der Verwässerung und Einschränkung der Befugnisse der US-amerikanischem Umweltschutzbehörde EPA abzulesen–  etwas, das kürzlich erst auf Betreiben der  »Wirtschaft« vom Kongress, also dem US-Parlament durchgesetzt wurde.(2) Auch die Schwierigkeit, sich auf Konferenzen wie in Kopenhagen oder Cancun auf notwendige Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe, also zur Abschwächung des in vollem Gang befindlichen Klimawandels zu einigen, spricht Bände. Und die Atomenergiebehörde hat aus der nuklearen Katastrophe in Japan – der lange der Öffentlichkeit verheimlichten Kernschmelze bei mindestens drei Reaktoren im Atomkraftwerk Fukushima – vor allem den Schluß gezogen, daß man der Bevölkerung wieder „Vertrauen“ in die zivil genannte Nutzung von AKWs einflößen muß.(3)

Das „Bereichet euch!“ ist offenbar derzeit eine globalisierte Maxime der Mächtigen, die auch für diejenigen – und das ist die Mehrheit der Bevölkerung – propagiert wird, die keine  oder kaum eine Chance dazu haben, sondern im Gegenteil die Zeche zahlen. 

Eigenartig, daß die Pessimisten bei uns –  die, welche von der Schlechtigkeit des Menschen, der Dominanz der » Gier« und des »Egoismus« so überzeugt sind, daß ihnen eine auf Konkurrenz und Profitmaximierung gegründete Gesellschaftsordnung als allein der angeblichen menschlichen Natur entsprechende erscheint – oft zugleich Ethiker sind. Jedenfalls sind sie es zumeist, die den ethischen Diskurs und die ethische ausgerichtete „Analyse“ statt der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse favorisieren.

Dabei wagen sie sich nichts desto weniger an die gesellschaftlichen Verhältnisse präjudizierende »ethische« Aussagen.

Nehmen wir das Beispiel des Erzbischofs von München und Freising, Reinhard Marx, dem man zugute halten muß, daß sein Menschenbild differenzierter ist. Er hält immerhin – aber auch  das ist, im  Anschluß an die Reflexion des Völkermords und anderer von deutschen Faschisten begangener Verbrechen inzwischen längst Konsens unter sogenannten Gebildeten in Deutschland – den Menschen (ganz abstrakt) für des Guten wie des Schlechten (oder Bösen) fähig.(4)   

Letztlich ist das eine Schlußfolgerung aus dem katholischen Dogma des »freien Willens«, das durchaus der herrschenden, vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägten Rechtsauffassung vom Menschen als freiem, nämlich zur Vertragsfreiheit befähigtem Rechts-Subjekt verwandt ist. 

Reinhard Marx ist Professor für Sozialethik, zugleich ein ranghohes Mitglied der kirchlichen Hierarchie – und insofern repräsentativ für eine ins Gewicht fallende Tendenz in der katholischen Amtskirche, deren politischer Einfluß in Europa, aber nicht nur dort, nach wie vor bedeutend ist. Er ist fraglos ein Konservativer im gängigen Sinne des Wortes. Das zeigt sich etwa daran, daß er in einer historischen Situation, in welcher der Grad der realen Emanzipation der großen Mehrheit der Bevölkerung alles andere als zureichend ist, glaubt, vor einem zu viel an Emanzipation warnen zu müssen. In seiner Schrift  Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen(5), die in vieler Hinsicht eher den Titel verdienen würde, Das Kapital, Eine Verteidigung der Unternehmer und Unternehmens, ihres Eigentums und ihres Rechts auf Gewinn schreibt er z.B. unmißverständlich: „Wo die Emanzipation des Subjekts grenzenlos wird, da mündet die Freiheit am Ende in neue Zwangszusammenhänge.“(6) Wo, bitte schön, ist heute die Emanzipation und mithin die Freiheit der Unteren grenzenlos? Die Furcht vor ihrer Emanzipation – ist sie nicht die Furcht der »Eliten«?  Dennoch ist Reinhard Marx nicht jemand, der kritische Positionen nicht zur Kenntnis nimmt.(7)  Er ist ein Kirchenmann, aber auch einer, der immerhin von einer dem „christlichen Menschenbild eng verbundenen Anthropologie der Aufklärung“ spricht.(8) Und dies, obwohl die Kirche, die er repräsentiert, bis weit ins 19., wenn nicht 20.Jahrhundert hinein anti-aufklärerische und anti-demokratische Positionen favorisierte, und sich noch in jüngster Zeit in peinlicher Nähe zu Diktatoren wie Franco und Pinochet fand.

Klammern wir eigene Fragen nach der besseren Gesellschaft, der realeren Demokratie sowie Einsichten, gewonnen aus der Analyse der historisch gewordenen, derzeit weltweit dominanten gesellschaftlichen Verhältnisse aus, und begeben wir uns auf das von  Reinhard Marx favorisierte Terrain der Ethik, so finden wir dort bei ihm Aussagen, die möglicherweise bedenkenswert sind.

Reinhard Marx zitiert in seiner soeben genannten, sehr zügig auf den Ausbruch der Finanzkrise reagierenden, nämlich bereits im Jahr 2008 veröffentlichten, zwei Jahre später dann  als Taschenbuch erschienenen Schrift sinngemäß einen sizilianischen Jesuiten des 19. Jahrhunderts, Luigi Taparelli, der die für einen katholischen Kleriker damals beachtliche Feststellung machte: „Nicht nur ein einzelner Mensch, auch eine Gesellschaft kann gerecht oder ungerecht sein.“(9) 

Das sahen damals Millionen Menschen so.(10) 
Auch heute sehen es Millionen Menschen so.(11)

Und sie spürten damals und spüren heute, daß sie in keiner gerechten Gesellschaftsordnung leben. Viele ahnen wohl auch oder wissen, daß sie selbst (streng genommen, reflektiert man »ethisch« das Menschsein) Menschen wie Shen Te / Shui Ta in dem Stück von Brecht sein können: freundlich und unfreundlich. Bereit, das letzte Stück Brot zu teilen, aber auch –  je nach den Umständen – hart bei der Verteidigung des »eigenen« Brotes.  Sie ahnen oder wissen aus Erfahrung, daß es unter ihnen welche gab und gibt, die mehr zur Großzügigkeit oder mehr zum Geiz neigen. Mutigere und ängstlichere. Humorvolle und Miesepeter. Und vor allem, daß – manchmal ganz unerwartet –  das Eine in das Andere umschlagen kann. Das wußten oder ahnten auch zu Taparellis Zeiten vermutlich viele »Nicht-Ethiker«: also Tagelöhner, Kleinbauern, Handwerker, Manufaktur- und Fabrikarbeiter. Kleine Gewerbetreibende etc. ebenfalls. Und ihre Frauen und Kinder, ihre längst nicht mehr zur Arbeit befähigten greisen Eltern wußten es oft wohl noch besser.

Das Besondere an der Aussage Taparellis, die Reinhard Marx als so bemerkenswert begreift, ist somit nur, daß die Kirche – als Jahrhunderte lang als Verteidigerin des Status Quo und der herrschenden Macht auftretende » ethische Instanz« – wenigstens die abstrakte Möglichkeit einräumte, daß das zu beidem, zu gutem wie schlechtem fähige  »einfache Volk« unter einem ungerechten Herrscher, und was entscheidender war, unter einer strukturell ungerechten Herrschaftsordnung und einem ungerechten sozio-ökonomischen Ordnung (also in einer ungerechten Gesellschaft) leben könne.

Auch der kirchliche Sozialethiker Reinhard Marx räumt das offenbar ein.
Er räumt ebenso ein, daß die katholische Kirche, deren hochrangiger Repräsentant er ist,  hinsichtlich „ihre[r] Vorstellungen von politischen Freiheitsrechten [...] defizitär“ war – eine Formulierung, die vorsichtig Kritik in Bezug auf die Vergangenheit dieser Amtskirche, aber nicht in Bezug auf ihre Gegenwart, billigt.(12)

Derselbe Sozialethiker, der sich – als vermutlich in Westdeutschland sozialisierter Katholik – gleichsam natürlich vielen Positionen des »christlich-sozial«, also konservativ geprägten politischen Liberalismus jenes Typs, wie ihn unter anderem die CSU vertritt, angenähert haben dürfte, ist ein Schwankender. Ein Verteidiger der gegebenen Gesellschafts- und das heißt vor allem, der Eigentumsverhältnisse. 

Mithin auch des Eigentums und der Macht der großen Konzerne. 

Er ist zugleich einer, der Kritik übt, an »Exzessen« derer, die dieses Eigentum benutzen und die »Wirtschaftsmacht«, damit auch politische Macht ausüben. Wie Obama ist er nicht ganz und gar gegen change, gegen Veränderung: Er verteidigt einen flexiblen Status Quo.(13) 

Der Kern der dahinter stehenden Sozialethik ist das der vorkapitalistischen Welt, also der alten Feudalordnung entlehnte »Subsidiaritätsprinzip«. 

Das Modell ist abstrakt, hierarchisch und gleichzeitig auf den Schutz des Partikulären angelegt. Die autoritäre Interpretation des Satzes „Gib Caesar, was des Caesar ist“, gilt  als gemünzt auf die gesamte gesellschaftliche Ordnung. Diese wird letztlich korporatistisch verstanden:  als hierarchisch strukturiertes Gefüge mit der Staatsmacht an der Spitze und darunter – den staatlichen Gesetzen unterworfen, aber vor staatlichen Interventionen zu schützen –  der »subsidiären« Sub-Gesellschaft der Wirtschaft, in der die Unternehmer Eigentumsrechte und eine Fürsorgepflicht für ihre Beschäftigten haben. Die  Macht der Wirtschaft, die Rechte des »Eigentums« –  das wird legitimiert und durch die Legitimation trägt man dazu bei, beides aufrechterhalten.  Wie die kirchliche Hierarchie –  spätestens seitdem der römische Imperator Konstantin das Christentum zu so etwas wie einer Staatsreligion erhob –  die herrschende Ordnung der sogenannten Sklavenhalter- Gesellschaft des Römischen Imperiums, dann die feudalistische Ordnung als gottgegeben  verteidigte,  so verteidigt sie heute die gleichsam ewig und für alle Zeit gegebene soziale Ordnung der »sozialen Marktwirtschaft«.(14)

Der Sozialethiker Reinhard Marx faßt die Bedeutung des »Subsidiaritätsprinzip«. für die katholische Sozialethik so zusammen:

„Eine  übergeordnete Gesellschaft darf nicht in das innere Leben einer untergeordneten dadurch eingreifen, daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt.“(15) 

Von Ivan Illich interpretiert, könnte dieser Grundsatz – antihierarchisch gewendet und bezogen auf das Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen, zwischen Demokratie auf der Ebene des Nationalstaats bzw. der Weltebene und Demokratie vor Ort (Recht der Menschen vor Ort, über ihre Lebensumstände zu bestimmen) – interessante Impulse geben für eine realere, partizipative Demokratie, auch für Selbstverwaltung, also Demokratie hinsichtlich der produktiven und distributiven Aktivitäten der Menschen.

Aber der autoritäre, von übergeordneten und untergeordneten Ebenen ausgehende Charakter des Modells, wie er der heute immer noch im Klerus vorherrschenden Interpretation zueigen ist, reduziert die Chance einer solchen Applikation.

Als die übergeordnete Ebene erscheint, wie bereits gesagt, die zentrale Staatsmacht. Sie gilt gewissermaßen als abstrakter Repräsentant der Gesamtgesellschaft, bzw. als die mit der Vertretung der »Gemeinwohl«-Interessen –  gleichsam von Gott? oder von jenem Souverän, von dem laut Verfassung „alle Macht“ ausgeht, vom »Volk« (peuple; “We, the people“)? –  beauftragte Instanz. 

Und ihr gegenüber wird, auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips, die rein abstrakte, formale Autonomie der dem Staat untergeordneten »Sozialpartner« –  also der in einem Vertragsverhältnis stehenden Unternehmer  (bzw. Unternehmen) und der Beschäftigten (bzw. ihrer institutionellen Repräsentanten, also der Gewerkschaften) verteidigt.

Von den Gewerkschaften und ihren Rechten erfahren wir allerdings wenig.

Der Akzent liegt auf den aus dem Subsidiaritätsprinzip sowie aus den naturrechtlich interpretierten »Menschenrechten« (wie sie bestimmte Vertreter der Aufklärung, z.B. John Locke, formulierten) abgeleiteten Rechten der Unternehmer (bzw. Unternehmen). 

Ein ganz zentrales Menschenrecht ist dabei das Eigentumsrecht der Unternehmer (bzw. Unternehmen und ihrer Aktionäre) und die daraus abgeleitete freie Verfügung über das Eigentum.(16)

Wenig überzeugend in seiner Abstraktheit ist allerdings die Ableitung des wirtschaftlich relevanten Eigentums in der hier und heute gegebenen Gesellschaft vom Leistungsgedanken, vom „Leistungswettbewerb“(17)  und von dem Argument, daß die Eigentümer großer Aktienpakete oder die Mitglieder von Familiendynastien, die Großunternehmen im Familienbesitz halten, ihr Eigentum selbst „erarbeitet“ haben(18) –  auch wenn hin und wieder Alt- oder Neureiche mit Blick auf ihre Villen und Unternehmen zu sagen pflegen: „Das hab ich mir alles selbst erarbeitet.“ Das sogenannte einfache Volk hat ein anderes, gegenteiliges Erfahrungswissen: „Von seiner Hände Arbeit ist noch keiner reich geworden.“

Dennoch: das in immer weniger Händen befindliche entscheidende, da große Eigentum (an Banken, Versicherungen, mit Handel und Produktion befaßten Konzernen usw.), das schon der US-Senator Estes Kefauver „in wenigen Händen“ (in a few hands) sah(19) – eine Tendenz, die seit den 1990er Jahren noch zugenommen hat – wird von dem Sozialethiker verteidigt mit den Worten: „Niemand, auch nicht der Staat, darf die Vorteile konfiszieren, die sich jemand  [...] erarbeitet hat.“(20)  Keinem Unternehmer also,  und keinem Unternehmen darf Eigentum entzogen werden. Was aber die Unteren angeht, zumal die von diesen Unternehmen in übergroßer Zahl Entlassenen, die sich in die Schar der Millionen Arbeitslosen einreihen, die 50 Bewerbungen in einem Monat abschicken, aber keine Antwort erhalten und die vielleicht nach einem Jahr den Kopf hängen lassen und aufgeben, so empfiehlt ihnen ein Bestallter, in sicherer Stellung gut Lebender Eigeninitiative, Verantwortung für das eigene Leben, die Kreativität, sich als Vereinzelter (denn der Arbeitslose ist für R. Marx vor allem ein Einzelner, ein sittliches Subjekt) wie Münchhausen am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.(21) Dieser Einzelne –  vor allem er –  wird ermahnt:  „Natürlich ist jeder zunächst einmal dazu verpflichtet, sich [...] [seinen Lebensunterhalt, und seinen Möglichkeit, wenigstens minimal am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren ] selbst zu erarbeiten.“(22) Verbleibt das nicht ganz auf der Linie derer, die erfüllt sind vom „Im Schweiße deines Angesichts“, also dem ideologisch als dominant zu betrachtenden Arbeitsethos, das die realen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und die Tendenz der gegebenen Wirtschaftsordnung, immer mehr Menschen »freizusetzen« und mit immer weniger Menschen immer mehr (auch viel unnützes, aber profitabel vermarktbares Zeug) produzieren zu können,  tagtäglich ad absurdum führen?

Es wäre offensichtlich ein Irrtum, dies – trotz der möglichen anderen Lesart, wonach der Staat „Vorteile“ bzw. Eigentum und Eigentumszugewinn konfiszieren dürfte, sofern sie nicht realiter selbst erarbeitet sind, und wonach der nicht arbeitende Hedge-Fond Investor, Besitzer einer Bank oder Großaktionär bei Bayer oder Porsche seine  „Partizipationsmöglichkeiten“ (das heißt auch bei Reinhard Marx, allerdings bezogen auf die Unteren,  zunächst einmal, seinen Lebensunterhalt) verlieren würde und nun real zu erarbeiten hätte – als ein Plädoyer für eine Arbeiterdemokratie, eine neue Form von Gerechtigkeit usw. zu verstehen. Es also für eine versteckte Ermutigung zu einer neuen, kompensatorischer Gerechtigkeit verpflichteten  Politik zu halten, welche das unrechte Gut der durch List, Betrug, Raffinesse, ungleiche bzw. unfaire Verträge, die Ausnützung der Arbeit Anderer zu beträchtlichem (gesellschaftlich in relevantem Maß Wirtschaftsmacht und politische Macht repräsentierendem) Eigentum  Gekommenem einziehen und den Bestohlenen das Genommene zurückerstatten würde. Nein, darum geht es mitnichten.

Denn  außer der realen Arbeit des realen Arbeiters (ob nun blue collar oder white collar worker – Mensch im Blaumann in der Fabrik, oder Mensch mit weißem Hemdkragen im Büro, im Kontrollraum, am Schalter oder hinter dem Tresen) zählt für den »Ethiker« auch der „Fleiß“ des Spekulanten, seine „Kreativität“ bei der Realisierung von Schneeballsystemen, sein „Wagemut“, der ihn selbst vor dem Bruch von Gesetzen nicht zurückschrecken läßt.(23)

Dies mag – in der gewählten Zuspitzung –  polemisch formuliert sein, denn  Reinhard Marx polemisiert in seiner Schrift sehr wohl gegen exzessive Formen der Spekulation. Er übersieht aber, daß allen Geschäften mit dem Boden, allen Kreditgeschäften, allem Rohstoff- und sonstigen Handel, ja sogar aller Produktion für den Markt ein spekulatives Moment innewohnt, ohne das keine Realisierung einer Grundrente und auch kein Profit möglich wäre. Die »Arbeit« des Eigentümers des in Familienbesitz befindlichen Unternehmens, ebenso des Aktionärs, des leitenden Managers (als die Geschäfte führendem Repräsentanten der Eigentümer bzw. Aktionäre) ist also – soweit sie das Wesentliche des Geschäfts, die Konzeption von Geschäftsstrategien zwecks Erwirtschaftung einer Rendite betrifft, die »Arbeit«  eines Spekulanten. Und alles andere am Geschäft der Eigentümer, (Groß-) Aktionäre, Manager an der Unternehmensspitze ist an subalterne Gehilfen (an Zuarbeiter und Mitarbeiter, in gewissem Sinne also an Arbeiter) delegierbare und in der Regel auch delegierte Organisation und Kontrolle der realen Arbeitstätigkeit des Personals.

Läßt man die Polemik beiseite, so kann man natürlich durchaus von Risikobereitschaft und insofern von Wagemut der Unternehmer von  einst und von heute sowie der Manager von großen Konzernen sprechen.
Große Unternehmen an der US-amerikanischen Ostküste z.B. legten den Grundstein ihres Vermögens durch den Sklavenhandel, ebenso vermutlich manch ein britisches und holländisches Unternehmen. Später kam das China aufgezwungene, sehr lukrative Geschäft mit Opium hinzu. Alles mit Risiken behaftete, daher im Glücksfall hoch profitable Geschäfte. Die Krupps, Thyssens, Röchlings wurden zu mächtigen Industriellen-Dynastien (und in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrechern) durch die mit dem Risiko von Kriegen und Niederlagen behaftete Rüstungsproduktion. 1866, 1870/71, 1914-18, 1949-45  sowie die den Kriegen vorgeschalteten Aufrüstungsphasen waren die Jahre, in denen ihre Firmen in Blüte standen und expandierten. Grundig wurde im Zweiten Weltkrieg zum Großunternehmer, ebenso im Ansatz Bertelsmann, eine mickrige zunächst pietistisch ausgerichtete Provinzfirma, die in großem Umfang dem Nazi-Regime genehme „Erbauungsliteratur“ für die Soldaten an der Front druckte.

Der Sozialethiker bejaht das vielleicht im Einzelnen nicht (es gibt ja, denkt und sagt er, Exzesse), aber er bejaht prinzipiell diesen konkreten „Leistungswettbewerb“, der offenbar als dasjenige Moment gesehen wird, das gesellschaftlich unverzichtbar ist. Weil es entscheidend zur Dominanz und zur globalen Rolle all der wohl nie anders als auf zweifelhafte Weise groß gewordenen global players führte?  Für den Sozialethiker Reinhard Marx ist die dem Leistungswettbewerb einbeschriebene Dynamik jedenfalls etwas, das im großen Ganzen betrachtet durchaus zu „akzeptablen Ergebnissen“ führte und führt.(24)   Letzteres aber sei dann, und nur dann zu erwarten, erfahren wir, „wenn [...] eine grundsätzliche Chance auf Gewinn“ besteht.(25) 

Der für den derart argumentierenden Sozialethiker nach wie vor entscheidende Gewährsmann ist ein wegen seiner konservativen, auch gegenüber die Theologie der Befreiung rigorosen Haltung berühmt gewordener Papst: Johannes Paul II.

Dieser Johannes Paul II. ist offensichtlich in klassischem Sinne, in ganz wesentlichen Punkten, ein Wirtschaftsliberaler. Er wendete sich laut Reinhard Marx entschieden gegen staatliche „Bevormundung oder gar Steuerung“ der Unternehmen (und der Wirtschaft als ganzer).(26) Also im Prinzip gegen Industriepolitik, staatliche Rahmenplanung, Finanz- und Steuerpolitik, direkte oder indirekte Eingriffe der Notenbanken in das Gefüge der Währungen und ihrer Wechselkurse, gegen eine Staatsquote in einer Höhe zwischen 40 und 50 Prozent: alles Sachverhalte, die seit spätestens den 1930er Jahren in aller sogenannten hochentwickelten Industrieländern gang und gäbe sind. 

Der Mann bezieht also frühkapitalistische wirtschaftsliberale Positionen. „Er war ein großer Freund und Verteidiger [...] der wirtschaftlichen Freiheit des Menschen.“(27)  Der Unternehmerfreiheit.

Man muß daran erinnern, daß diese – aus Verantwortung für das Unternehmen, wie man uns sagt – ausgeübte wirtschaftliche Freiheit einen Top-Manager, im Interesse der Eigentümer handelnd, ermächtigt, mit einem Federstrich aus einem hohe Gewinne erwirtschaftenden Unternehmen zwecks Erhöhung der Rendite 20.000 Beschäftigte zu entlassen und den Arbeitsdruck für die verbliebenen Beschäftigten zu erhöhen. Während den verbliebenen Beschäftigten die Freiheit bleibt, sich diesem Druck zu beugen oder zu kündigen. Während gleichzeitig jene entlassenen 20.000 bislang Beschäftigten (und ihre Familien) die Freiheit haben, angesichts einer seit fast vier Jahrzehnten in den „hochentwickelten westlichen Industrieländern“ bestehenden Massenarbeitslosigkeit mit ihrer neuen Situation zurecht zu kommen und das Beste daraus zu machen, oder auch nicht.

Immerhin beklagt der Sozialethiker Reinhard Marx (allerdings folgenlos und auf Korrekturvorschläge verzichtend) das, was gang und gäbe ist, was er aber als Ausnahme und Exzess versteht: daß Top-Manager, z.B. von Banken, die durch Beteiligung an Spekulationen Milliarden Verluste machten, eine hohe „Abfindung“ erhalten, während viele der ebenfalls von dem betreffenden Unternehmen Entlassenen oft perspektivlos innerhalb eines Jahres (oder in einigen Fällen nach maximal anderthalb Jahren) bei HartzIV landen.(28)

Immerhin ignoriert auch der Sozialethiker Reinhard Marx nicht das Problem der Massenarbeitslosigkeit. Er zitiert den soeben genannten Papst: „[D]er Staat hat die Pflicht“, die untergeordnete subsidiäre Ebene, gleichsam das Pendant seiner einstigen  Lehnsfürsten, die Manager der Konzerne und die Unternehmer, und das meint dann konkret deren wirtschaftliches Haneln, also „die Tätigkeit der Unternehmen dahingehend zu unterstützen, daß er [arbeitsrechtliche, steuerliche und sonstige] Bedingungen für die [erhoffte unternehmerische] Sicherstellung von Arbeitsgelegenheiten schafft. Er muß die [gesamtwirtschaftliche] Tätigkeit dort, wo sie sich als unzureichend erweist, anregen bzw. ihr [der Tätigkeit und damit den Unternehmen] in Augenblicken der [Wirtschafts-] Krise unter die Arme greifen.“(29) Wie das – zugunsten der Banken – im Kontext der derzeitigen Krise geschieht und wer die Zeche zahlen soll und zum Teil schon zahlt, das erleben wir gerade.

Wir müssen, indem wir an das Beispiel der paternalistischen katholischen Unternehmer des späten 19. Jahrhunderts (wie Villeroy & Boch) erinnern, hinzusetzen, daß nicht nur dem Staat eine Verantwortung für die Unternehmen, sondern auch den Unternehmern von der katholischen Sozialethik eine Verantwortung, und zwar ganz besonders für die von ihnen Beschäftigten, zugeschrieben wird. Sie ist der Verantwortung des Feudalherren gegenüber seinen »Schutzbefohlenen« vergleichbar.  Wie seinerzeit dem Feudalherrn gepredigt wurde, daß er im Namen Christi seinen Untertanen, seinen Dienern und Knechten, seinen leibeigenen Bauern usw. einiges schuldig sei (eine Predigt, die nur selten konkrete positive Effekte gezeitigt haben dürfte), so predigt man in den letzten 150 Jahren, und wie wir am Beispiel eines Reinhard Marx sehen, bis heute – ebenfalls in der Regel wirkungslos –  den Unternehmen, deren »wirtschaftliche Freiheit« die Kirche verteidigt, die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Umgangs mit den dem Management bzw. dem Eigentümer untergebenen Beschäftigten. Es sind ja der Weisungsbefugnis der Herren des Eigentums Unterworfene. Gleichsam von Gott ihnen anvertraut. Oder doch eher von den Kräften des Marktes ihnen in den Rachen geworfen?

Man muß allerdings anerkennen: Die den Unternehmen bzw. Unternehmern abverlangte Verantwortung bezieht sich nicht nur auf die ihnen (und ihrer Macht als Eigentümer) ausgelieferten Untergebenen. 

Der Kreis derer, gegenüber denen sich vor allem die Konzerne, vielleicht auch die mittleren und kleinen Unternehmen verantwortlich verhalten sollen, ist in der Abhandlung des Reinhard Marx –  ganz im Sinne der von ihm vertretenen katholischen Sozialethik – um vieles weiter gezogen, als das er nur die Beschäftigten umfassen würde.

Das klingt dann so:

„Die Manager in den großen Unternehmen haben nicht nur die Rendite der Aktionäre im Blick zu behalten“ – und damit ein aus dem Eigentümerrecht abgeleitetes legitimes Interesse zu wahren, so befindet der Sozialethiker. Sie haben „auch [auch! – also nebenbei, außerdem, parallel dazu, so gut es eben geht] die berechtigten Interessen der Beschäftigten, der Kunden, der ganzen Gesellschaft und auch [auch! sogar! ein bißchen unter »ferner liefen«?] der Umwelt [bei der Verfolgung ihres auf Maximierung der Rendite angelegten Vorhabens] im Blick zu behalten“.(30)

Das ist wahrhaft umfassend, also sozialethisch gedacht.

Was immer ein solches „im Blick [...] behalten“ allerdings heißen mag, es scheint keine großen praktischen Konsequenzen zu haben. Die Beschäftigten finden sich – angesichts der Millionen Arbeitslosen, die ihre Stelle einnehmen könnten – der Erpressung durch die Unternehmen, die Gewerkschaften einer auf ihre dauerhafte Schwächung angelegten Unternehmerstrategie und staatlichen Politik ausgesetzt.(31) Die Beschäftigten, in ihrer »Rolle« als Kunden, finden sich konfrontiert mit sinkenden Reallöhnen und offener oder versteckter Inflation sowie einer Tendenz zur Qualitätsverschlechterung der Produkte (was zu niedrigeren Produktionskosten, verminderter Haltbarkeit, schnellerer Warenumschlagsgeschwindigkeit führt). »Die Gesellschaft« und selbst die (wirtschafts- bzw. unternehmensfreundliche) »Politik« sieht sich gleichzeitig immer stärker dem »Diktat der Wirtschaft« unterworfen. Und das, was man die Umwelt nennt und was nach Umweltpolitik schreit, die physiologischen und psychischen  Existenzbedingungen des Menschen, die Überlebensbedingungen aller Gattungen, die Qualität der Luft, des Wassers, der Erde: alles geht seit Jahrzehnten schneller den Bach runter als mancher es ahnt.  Aber das, was man in den Zeitungen die Wirtschaft nennt – die Macht der Unternehmen also– sperrt sich nach wie vor, in der Regel aus »Kostengründen«, gegen eine Umkehr, eine Korrektur einer destruktiven Weise, zu produzieren, zu vermarkten und »konsumistische« Bedürfnisse bei denen, die es sich noch leisten können, anzuheizen.

Wenn es einer kirchliche Sozialethik um eine einigermaßen gerechte Gesellschaft geht – man macht ja »pragmatisch« Konzessionen, läßt sich auf Kompromisse ein, ist »kein Idealist, kein Anhänger unmöglicher, nirgends realisierter noch realisierbarer Utopien, weil wir Menschen fehlende, sündige Wesen sind, Vertriebene aus dem Paradies« – so braucht sie einen Anschein der Fairness für eine von ihr gerechtfertigte Gesellschafts- und damit auch Eigentumsordnung, in der offenkundig großer Reichtum (vor allem natürlich Verfügungsgewalt über Kapital, und damit politischen Einfluß) in den Händen weniger parallel zu großer Kargheit und Gestresstheit des Lebens der Massen und auch erheblicher Armut existiert. Für diesen Anschein soll die These, manche sagen, die Ideologie der „Chancengleichheit“ – die angeblich im Prinzip gewährleistet ist durch „Chancengerechtigkeit“ sowie „Verfahrensgerechtigkeit“ –  sorgen.(32)

Verfahrensgerechtigkeit meint die rechtliche und die bürokratisch institutionelle Absicherung gleicher Zugangsrechte. Also jene abstrakte formale Gleichheit, die dem Kind, das aufwächst in der kaum Platz für ungestörtes Lernen lassenden Kleinwohnung einer wegen Arbeitslosigkeit HartzIV beziehenden, zur Alkoholikerin gewordenen, alleinerziehenden Mutter, die Erarbeitung der gleichen Zugangsvoraussetzungen für ein Universitätsstudium aufbürdet wie dem Akademikerkind, das in einem von materiellen Nöten relativ freien familiären Kontext heranwächst. (Man muß die Beispiele drastisch wählen, um die Quintessenz zu verdeutlichen, das formal gleiche Verfahren bei materiell ungleichen Voraussetzungen, was die Möglichkeit, von diesen Verfahren Gebrauch zu machen, keine reale Chancengleichheit ergibt.) Der Begriff der Chancengerechtigkeit soll wohl bedeuten, daß formale Chancen gerecht verteilt werden; nicht, daß die Chancen gerecht sind, insofern sie materiell gleiche Ausgangsbedingungen schaffen. Damit würde er faktisch zum Synonym für formale Chancengleichheit, die vor allem von der Bereitstellung eines Schulsystems erwartet wird, das jedem eine – in der Praxis allerdings, im Anbetracht ungleicher sozialer Lage und ungleicher Sozialisationskontexte, ungleiche – Chance gibt.

Der Sozialethiker stellt dazu fest:  „Volle Chancengleichheit freilich wird kein moralisch akzeptables Verfahren je herstellen können.“(33) 

A priori wird also festgestellt: nicht das Ausbleiben oder Versagen kompensierender Maßnahmen, die im Sinne kompensatorischer Gerechtigkeit das Ausmaß der Ungleichheit der „Chancen“ zu verringern suchen, ist ein Skandal; nein, der Versuch, Verfahren zur Erreichung voller Chancengleichheit zu entwerfen, ist von vorn herein moralisch bedenklich und würde er zum Erfolg führen, könnte er nichts anderes sein als moralisch nicht akzeptabel.

Im stalinistischen Rußland galt den Herrschenden »Gleichmacherei« als ein Verbrechen.  Und die bürokratische poststalinistische »Elite« in der am Devisenmangel, am ungleichen Tausch (échange inégal) auf dem Weltmarkt, an ihren Staatsschulden zugrunde gegangene, am Ende bankrotten DDR sah das ähnlich, auch wenn die Ideologie – ähnlich wie die republikanische Ideologie in Frankreich – gewisse, empirisch nicht oder nur ganz unzureichend eingelöste Gleichheitsvorstellungen transportierte. Eigenartig, daß viele Menschen in der DDR dem Partei- und Staatschef Erich Honnecker nach dem Fall der Mauer offen seine Privilegien vorwarfen: den Saab Mittelklasse-Wagen, den er statt eines Trabant fuhr, und das bescheidene, einem Prokuristen eines mittleren Unternehmens in Westdeutschland damals gut anstehende Haus im der Führungsriege vorbehaltenen, abgeschirmten »Elite«-Ghetto am Wandlitzsee. Offenbar haben und hatten »Eliten« (damals in Ost und West, heute in der einen, Globalisierungsstrategien unterworfenen Welt) ähnliche Vorstellungen von der funktionalen Notwendigkeit einer »gewissen Ungleichheit«, während die Unteren spontan am Mangel an Gleichheit leiden und selbst ein Ausmaß der materiellen Privilegiertheit, das im Vergleich mit demjenigen des derzeitigen Deutsche Bank Chefs Ackermann (Monatseinkommen weit über 600.000 Euro) geradezu winzig erscheinen muß, in der DDR bei ihren den Sozialismus propagierenden Herren zurückwiesen.

Daß der Sozialethiker Reinhard Marx sich in der Frage der Erreichbarkeit „voller Chancengleichheit“, die ja nur die theoretische Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und/oder der Bereicherung einiger (!!!) aus der Menge der Unteren implizieren würde (genau wie die gleiche Chance auf einen Lottogewinn nicht bedeutet, daß jeder gewinnt), pragmatisch und zu Abstrichen bereit zeigt, bedeutet nicht, daß er kein Herz hat für die Unteren. Er gibt vielfach Belege an die Hand, Passagen, in seiner Schrift, die zeigen, wie ihn diese oder jene Ungerechtigkeit betroffen macht und vielleicht auch schmerzt.

Wenn es um die Lage der Millionen Arbeitslosen geht, wird allerdings deutlich, daß ein der Logik der Gesellschaftsordnung verpflichteter »Pragmatismus« den Schmerz überwiegt.(34)

Kein Zweifel: der Abbau des »Sozialstaats« – letztlich, in Deutschland, das HartzIV Regime, mit seinen Begleitumständen wie Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit, Druck auf die Tariflöhne, Abbau regulärer Arbeitsplätze, also Reduzierung der Zahl der in sogenannten »Normalarbeitsverhältnissen« Beschäftigten –  wird von dem Sozialethiker Reinhard Marx verteidigt: Denn der Sozialethiker ist sich eben darin mit der neo-liberal gewendeten rot-grünen Regierung unter dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder und mit der schwarz-gelben Regierung unter der Kanzlerin Angelika Merkel einig: „Unzweifelhaft  [...] besteht im Zuge de Globalisierung [...] die Notwendigkeit zu wirtschafts- und sozialpolitischen Anpassungen.“(35) Eine härtere Gangart gegenüber den Beschäftigten und den arbeitslos Gemachten war also, um der Gesundheit der auf dem Weltmarkt tätigen Konzerne, deren Profite explodierten, notwendig.

Für die an den Rand, also aus dem Arbeitsprozeß Gedrängten, mußte der Gürtel enger geschnallt und der Anreiz geschaffen werden, auf einem von einem Überangebot an Arbeitskräften überschwemmten Arbeitsmarkt – ungeachtet der so erfolgenden tendenziellen Destruktion bereits erworbener materieller wie formaler Qualifikationen –  jede Dreckarbeit  für einen Hungerlohn zu verrichten, um öffentliche Kassen wenigstens an dieser Ausgaben-Front minimal zu entlasten und um ein Klima der Einschüchterung und verstärkten Disziplinierung für die noch nicht von Entlassung Betroffenen zu schaffen.

Deutlich heißt es bei Reinhard Marx: „[E]ine Revision der bisherigen Sozialpolitik [war] erforderlich, weil der Staat [...] an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist. [...] Die deutsche Staatsverschuldung ist [...] auf über 1,5 Billionen Euro angewachsen. Davon entfallen etwa zwei Drittel auf den Bund. Der Zinsdienst ist der zweitgrößte Posten im Bundesetat, er ist viermal so hoch wie die Neuverschuldung.“ (36)

Der Sozialethiker blendet aus, daß die Situation in den USA, in Großbritannien, in Irland, Island, Belgien, Frankreich, in Litauen, in der Slowakei, in Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, etc.etc. exakt die nämliche ist: Die Kassen sind mehr oder weniger leer, die Staaten samt und sonders mehr oder weniger stark überschuldet.(37)  Reinhard Marx  blendet auch die Gründe dafür aus: nämlich die bereits jahrzehntelang wirkende ökonomische Dynamik, die herausläuft auf eine extreme Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums an der »Spitze« und eine relative, dabei immer erheblichere (bei den Ärmsten sogar extreme und absolute) Verarmung der  Masse der Bevölkerung.(38) 

Die diese Dynamik begleitende sowie fördernde Politik hat der Umverteilung von unten nach oben dadurch zusätzliche Impulse gegeben, daß sie  Steuererhöhungen für die Massen (vor allem bei den direkten Steuern) zugleich mit Steuerbefreiungen und Steuerreduzierungen für Unternehmen und die kleine Gruppe der hohe Einkommen Beziehenden durchsetzte.(39) Gleichzeitig wurden – zum Nutzen der in dem betreffenden Sektor tätigen Unternehmen – die Rüstungsausgaben in vielen Staaten auf Rekordhöhe gehalten und es wurde für Nachfrage auf diesem Sektor durch das Führen kaltblütig ausgelöster Kriege (Jugoslawien/Kosovo; Irak; Afghanistan; Libyen) gesorgt. Die staatlichen Kassen sind also nicht ohne Grund leer.(40)

Eine Verschärfung des Problems leerer öffentlicher Kassen war in vielen Fällen gewollt, um eine Handhabe für den Abbau des »Sozialstaats« zu haben. Zum Teil ergab sich das rasant anschwellende Budget-Defizit aus der steuerlichen Entlastung der Unternehmen sowie der Steuerflucht der Reichen (Stichwort: Luxemburg, Lichtenstein, Schweiz, offshore havens).  Und zugleich resultierte es aus dem nicht nur krisenbedingten, sondern bereits zuvor durch den Abbau von »Normalarbeitsplätzen«
und die Zunahme der »working poor« verursachten relativen Wegbrechen der gesamtgesellschaftlichen Lohnsumme. Was heißt, daß die Arbeitsmarkt-Deregulierung und ihre Effekte auf das für die Finanzierung des Staatshaushalts immer wichtiger gewordene Lohnsteuer-Aufkommen  durchschlugen.

Aber auch wenn der Sozialethiker Reinhard Marx – sei es nun kaltblütig oder widerstrebend – den herrschenden, medial vermittelten Konsens bezüglich der Unvermeidbarkeit großzügiger staatlicher Hilfen für die Konzerne (mit Einschluß der besonders bedachten Banken) sowie der austerity, also der Verarmungspolitik als bittere, aber unvermeidbare  Medizin für die Masse der Bevölkerung teilt, zu der er  übrigens angesichts des Amts und seiner Bezüge oder Privilegien mit Sicherheit so wenig zählt wie die Vertreter des Volks im Parlament, so überschreitet er dennoch manche extrem konservativen Positionen in Richtung auf einen gesamtgesellschaftlich vorherrschenden sozialdemokratischen bzw. kleinbürgerlichen Diskurs, der z.B. gerade auch die (bereits weiter oben diskutierte) »Chancengleichheit« formal und abstrakt in den Mittelpunkt des – kaum theoriebelasteten, aller konkreten Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse abholden –  Interesses stellt.

Man muß, der Gerechtigkeit halber, bei aller Kritik an Reinhard Marx zugeben, daß eine Reihe seiner unzweifelhaft aus einer konservativen Überzeugung erwachsenen, von politischen und Wirtschaftsliberalen oft belächelten oder sogar kritisierten Positionen im Interesse der arbeitenden Menschen liegen und somit positiv (also materialiter als fortschrittlich) zu bewerten sind.

Die von ihm kritisierte Erosion des Verbots der Sonntagsarbeit – eine Erosion, die kaum gesellschaftlich plausibel begründbar ist, außer in bestimmten  Bereichen wie den Krankenhäusern, Altenheimen, bei den Verkehrsbetrieben (Bahn, ÖPNV) und angesichts des derzeitigen Stands der Technik auch bei Kraftwerken und Hochöfen – ist ein sozialpolitischer Rückschritt.(41) Der von Reinhard Marx geforderte Schutz der Familie, seine Übernahme der Positionen von vor allem feministischen Frauen, die  Arbeitszeitmodelle einfordern, welche eine Vereinbarkeit von Beruf, Kinderwunsch, Kindererziehung, Familie erleichtern, ist fortschrittlich.(42) 

Aber er zeigt sich hilflos angesichts der Gegebenheiten, die zu kritisieren er in der Lage ist. Dies vor allem wegen der von ihm verkannten Notwendigkeit aktiven, organisierten Widerstands zur Rückgewinnung verlorener sozialer Errungenschaften. Seine knappe kritische Anmerkung bezüglich eines von der Politik auf Betreiben der Unternehmen favorisierten „einseitig-ökonomistischen Blick[s] auf  das Thema Bildung“, welcher ohne Frage – darin besteht Einigkeit zwischen R.Marx und vielen anderen Kritikern –  der Schulreform und dem die Hochschulen verschulenden Bologna-Prozeß zugrunde liegt(43), seine Kritik des Funktionalismus (44) und der technokratischen und bürokratischen Tendenzen (45) ist begrüßenswert. Aber er verkennt, wie dies alles systematisch und strukturell mit den politisch und ökonomisch ausschlaggebenden Fakten der Entwicklung großer, im Kern bürokratischer Privat-Unternehmen und Staatsapparate seit den 1890er Jahren, noch deutlicher seit dem Zweiten Weltkrieg, sowie der immer frenetischer betriebenen Steigerung der Kapitalakkumulation nach dem Ende der »fordistischen« Periode, welches keinesfalls einen Abbau, sondern nur eine Flexibilisierung der Bürokratie brachte, zusammenhängt. Da er die zugrundeliegenden undemokratische Strukturen und Praktiken verkennt oder verkennen will und hier somit vor einer den Kern treffenden Kritik zurückschreckt, kann er mit seinen kritischen Anmerkungen den »Eliten« nicht wirklich gefährlich werden. Er bleibt für sie ein Verbündeter, der auch als Kritiker harmlos ist, soweit er bloß vermeintlich korrigierbare Exzesse benennen will.

Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte, die seine Ethik in manchem 
sympathisch macht.

Da ist das Konzept der Partizipation.(46) 
Wir wissen, die »Mitbestimmung« in Deutschland war von Anfang an gedacht als Instrument der Integration, des Konfliktmanagements, der Milderung statt Aufhebung von Mißständen, von Widersprüchen. Auch – bisweilen, in der Praxis – als Instrument der verdeckten, aber faktisch wirkungsvollen, manchmal deutlich korrumpierenden Kooptation von Delegierten der Unteren durch das Management, die Kapitalseite.
Sie war natürlich auch ein gewerkschaftlicher »Machtzuwachs« in jenem der gegebenen Ordnung immanenten, also auf eine korporatistische Interessenausgleichs- und Vereinbarungskultur abzielenden Sinn.

Davon ist heute, da sich die Kräfteverhältnisse (durch Massenarbeitslosigkeit und Wegfall einer im Cold War Kontext von den »Eliten« gesehenen äußeren Bedrohung) verändert haben, nicht mehr viel zu spüren. Die »Mitbestimmung«  wird z.T. offen umgangen, abgebaut, zurückgefahren; z.T. besteht sie weiter, findet aber die gewerkschaftliche Seite nicht mehr hofiert, sondern in der Defensive.

»Mitbestimmung«  war hierzulande von den beteiligten Sozialpartnern und vom Gesetzgeber nie als Vorstufe von Autogestion gemeint, im Gegenteil. Sie war und ist – und das wird immer deutlicher – zahnlose, impotente »Partizipation«.

Was aber besagt die der katholischen Sozialethik geschuldeten Vorstellung von Partizipation, die sich bei Reinhard Marx entdecken läßt?

Sie bedeutet – sagt uns dieser Reinhard Marx – aktive, praktische Teilnahme und Teilhabe aller Menschen an einer guten, gerechten  Gesellschaft, einer solidarischen, allerdings den Markt als Movens, als vermeintlichen Stimulator von „Kreativität“ zulassenden Ordnung. 

Verstünde man diese Vision, dieses Ziel einer Teilnahme und Teilhabe aller Menschen zulassenden Ordnung ohne das besagte Movens, ohne den konkurrenzgetriebenen, vor allem anderen der Rendite-Realisierung  dienenden, gegenüber der qualitas des Produzierten  gleichgültigen Markt, so wäre die Partizipation eine umfassende statt gezähmte. Sie wäre eine humane, die freie Entwicklung der menschlichen Wesenskräfte begünstigende,  statt eine entfremdete.

Ein solche Vorstellung von Partizipation, die dem vom lediglich Zeitbedingten befreiten Kern der katholischen Sozialethik einbeschrieben ist, geht zweifellos – erleichtert man die zugrundeliegende Ethik auch, das Urchristliche daran ernst nehmend, um die dem Klerus lieben hierarchisch fixierten Komponenten –   sehr weit. Realisierte man sie, könnte solche Teihabe und Teilnahme, solche genuine Partizipation Kern und Logik der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung  transzendieren in Richtung auf eine gute Gesellschaft, eine realere Demokratie, eine solidarische, nicht mehr auf Konkurrenz und Tauschwert und Profit, sondern auf Kooperation und Privilegierung der wirklichen Bedürfnisse ausgerichtete Ökonomie. Das wissen die Befürworter einer wirklich umfassend partizipativen Demokratie. Das ahnen oder wissen die Parteigänger der Theologie der Befreiung innerhalb der Kirche. Besonders auf den Philippinen, in Süd-Korea, in Südafrika, in Brasilien, Paraguay, Nicaragua, Guatemala und Mexiko. Das vermuten sogar manche hier.

Unsere Erfahrung ist aber heute: davon – von solcher Partizipation – ist in unserer Gesellschaft nichts zu spüren. Die »Eliten« fürchten sie. Die von ihnen praktizierte und zugleich gesamtgesellschaftlich unter den Unteren geförderte Kälte und Konkurrenz, das funktional auf Erwerb ausgerichtete Denken und Handeln ist Ausgeburt einer ganz besonderen Art von „Kreativität“, die eher den Namen der Bauernschläue, der Cleverness, der Raffinesse verdient.

Eigenartig, daß Reinhard Marx diesen (wirtschaftlichen und politischen) »Eliten«  eine wirkliche, nicht die wenigen, sondern die Gesellschaft als ganze bereichernde „Kreativität“ zugesteht.

Unsere Erfahrung ist doch anders: die schöpferischen Menschen sind (auch wenn J. Schumpeter das anders sehen wollte und konnte, weil er eine andere, unternehmerische Definition des Schöpferischen wählte) selten oder nie Teil der »Eliten«; sie sind Teil der Bevölkerung, meist ohne hohen Rang, ohne Privilegien, ohne wirtschaftliche Macht, ohne politische Macht. Wir wissen doch längst schon: die Mozarts sterben arm. Die Werke van Goghs oder Gauguins werden erst, nach dem die Maler längst tot sind, teuer. Dichter sind oft Hungerkünstler. Kafka war kein Entrepreneur, sondern Angestellter, der in der Nacht sich den Albtraum der Versicherungsanstalt vom Leib und aus der Seele schrieb. Die meisten Erfinder und kreativen Ingenieure werden von cleveren Geschäftsleuten über den Tisch gezogen und haben materiell gesehen wenig oder nichts von ihren Erfindungen. Sie schenken sie sozusagen der Menschheit – und die Geschäftemacher vermarkten das dann.

Unsere Erfahrung ist: die wirkliche Kreativität kann auf den Markt scheißen und der Markt, der Literaturmarkt und seine Konkurrenz zum Beispiel, korrumpiert die Literatur. Der Kunstmarkt wird zum Feld für das poker game der Kuratoren, Museumsdirektoren, Galeristen, Sammler, sonstigen »Investoren« – aber die wirkliche Kunst entsteht trotzdem, am, im und neben dem Markt. Sie braucht den Markt nicht, sie leidet daran. Der Markt kommt nur insoweit ins Spiel, als der Künstler essen und trinken muß, um zu leben, als er die Miete bezahlen muß, als er Leinwand und Farbe mit Geld zu bezahlen gezwungen ist. Er ist in den Markt verwickelt, wider Willen.

Die Kinder, die Frauen, die Männer, die alten Leute: alle sind sie in unserer Gesellschaft in den Markt verwickelt. In der Regel –  ahnt man –  wider Willen.

Ja, Teilnahme und Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft, in der sie leben, ist für Menschen, ihre Existenz, ihre physische, auch ihre psychische Gesundheit lebenswichtig. Ja, das hat mit Würde zu tun. Mit dem potentiellen Glück, etwas zu tun für einen Anderen, auch für sich. Etwas zu geben: etwas zu kreieren, zu schaffen. Einen schönen Stuhl oder Tisch, ein Lächeln, einen Garten, einen nützlichen Herd oder Kühlschrank. Eine Fahrt, von A nach B, die Menschen zu einem Ort bringt, an dem sie gern sind oder etwas von Belang zu tun haben oder einfach »nur« Menschen begegnen.

Heute sprechen die, die über die Arbeitswelt reden, eine verquere, den falschen Verhältnissen geschuldete Sprache. Was anders als verquer ist es denn, wenn man heute das Vorliegen eines »Normalarbeitsverhältnisses« lobt? Und dies, weil die Betreffende oder der Betreffende in seinem Bemühen, in einer auf Lohnarbeit gegründeten Gesellschaft seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dank eines solchen »Normalarbeitsverhältnisses« nicht auf ein »prekäres Arbeitsverhältnis« reduziert ist, sich also nicht gezwungen sieht, von einem Lohn zu leben, von dem man im Volksmund mit Recht zu sagen pflegt: Zu viel zum Sterben, und zu wenig zum Leben...
 

Auch der Sozialethiker Reinhard Marx, für den das alte Arbeitslosengeld- und  Arbeitslosenhilfesystem des europäischen Sozialstaats vor der Reform so entwürdigend und unakzeptabel ist wie die inzwischen hierzulande kopierte amerikanische Lösung, aus welfare recipients, also Sozialhilfe- bzw. Alhi-Empfängern arbeitende Arme (working poor) zu machen (47), setzt auf das »Normalarbeitsverhältnis«. Wenn er die Vorstellung von Partizipation in Bezug auf die Wirtschaft konkretisiert, geht er von diesem »Normalarbeitsverhältnis« (mit seiner ihm einbeschriebenen Struktur, also der Weisungsbefugnis des Unternehmens, der Abhängigkeit des Beschäftigten) als Standard aus.  Es kommt bei seinem Partizipationsvorschlag daher nicht viel mehr heraus als die bei Toyota und Saab eingeführte Team- und Gruppenarbeit.  Welche – wie wir wissen – die repressive Funktion der Team-Verantwortlichkeit für die vereinbarte Leistung mit einschließt. Und welche sich auch aus anderen Gründen als für das Heraufschrauben der Produktivität zwecks Erhöhung der »Ausbeutungsrate« äußerst geeignetes Management-Instrument erweist. (Ähnliche Management-Techniken findet man heute übrigens nicht mehr nur in der Automobilindustrie, sondern selbst bei Banken.) Bei Reinhard Marx, der anscheinend den Hochglanzprospekten der ihre »Unternehmenskultur« anpreisenden Konzerne Vertrauen schenkt, entsteht ein idealisiertes Bild von der „Möglichkeit beständiger Fort- und Weiterbildung“ (die aber de facto, wo sie besteht, nicht der Entfaltung der Fähigkeiten der Menschen dient, sondern dem Kosten-Nutzen-Kalkül der Unternehmen unterworfen ist) und von der „Garantie partizipativer und kooperativer Betriebsstrukturen.“(48) – Vielleicht gibt es die ja inzwischen hier und dort wirklich, wenigstens im Ansatz: etwa bei Brockmans, dem besetzten Betrieb in Buenos Aires, und bei der Continental-Reifenfabrik in Puebla (Mexiko), die von der Belegschaft übernommen wurde.

Reinhard Marx spricht – wie andere auch – vom Bedürfnis der Menschen, eine sinnvolle Arbeit zu tun.(49) Er nimmt also – scheinbar oder wirklich – die zuerst von Karl Marx formulierte und theoretisch begründete Kritik entfremdeter Arbeit ernst. Das heißt, er versteht Arbeit als eine Beziehung, ein sinngeleitetes und sinnliches Verhältnis zum Gegenstand, der aus der Arbeit hervorgeht  und zugleich zu denen, für die der Gegenstand sein kann. Zu anderen Menschen, mit denen der Arbeitende durch das Band gesellschaftlicher Arbeit verbunden ist. Und durch den produzierten Gegenstand: jedenfalls, wenn es um produzierende Arbeit geht. Bei der anderen Arbeit, heute »Dienstleistung« genannt (weil sie ein dienendes, ein Knecht-Herr, Verkäufer-Kunde, Pfleger-Gepflegter, Heilender-Geheilter, Lehrender- Belehrter, nie ein auf Gleichheit beruhendes, gleichsam dialogisches Verhältnis, der Logik der »Arbeitgeber« zufolge, sein soll) steht ganz wesentlich, ihrem ganzen humanen Sinn nach, den aber die vorherrschenden Verhältnisse abzutreiben und uns auszutreiben geeignet sind, ebenfalls die Beziehung, das humane, lebendige, von Respekt und der Anerkennung der Würde des Anderen, der Nicht-Verleugnung der eigenen Würde getragene Verhältnis und Verhalten von Mensch zu Mensch im Mittelpunkt. Oder sollte eben dort stehen, wenn alles in Ordnung wäre. Was hindert so viele von uns daran – welche Macht (als internalisierte, aus Disziplinierungen hervorgegangene, oder auch als kontrollierende, überwachende, befehlende)?

Ja, nichts ist wirklich gut – und doch überlebt das Gute zwischen den Zeilen, in den Atempausen, den glücklichen Momenten, in denen die Kontrolle versagt oder das Kontrolliert-Sein vergessen wird.
Und in den Momenten des Widerstands, der Rebellion gegen Unrecht, unnütze Zwänge, falsche (statt sinnvoller) Disziplin. Ja, auch das ist wahr: die OP-Schwester muß wach und koordiniert arbeiten, und so manch anderer auch. Nicht der gesellschaftlich verordneten Hierarchie wegen, sondern der Arbeit wegen: damit sie gut gelingt, zum Guten des Operierten. Auch das ist wichtig: zum Guten, zu seinem lebendigen Nutzen, nicht zu einem quantifizierbaren, in Geld bezifferbaren. Wir brauchen eine andere Vorstellung vom »Nutzen« als die heute gängige: eine, die das Lebendige in den MITTELPUNKT stellt, die wirklichen essentiellen Lebens-Bedürfnisse der lebendigen Menschen und allen Lebens, statt der toten Ziffern. Geld ist nur ein Phantasma – ähnlich  wie die potemkinschen Produktionsstatistiken in den einst sozialistisch genannten, bürokratisch-etatistischen Industriegesellschaften des Ostblocks, wo man – wie hier im Westen – das Wachstum fetischisierte, aber die konkreten Menschen, ihre Sehnsucht, gut als Gute und vielleicht sogar manchmal glücklich zu leben, benutzte und zugleich ignorierte. Die Menschen. Die realen Menschen – nur der Dampf der Lokomotive namens Revolution? Verheizt. Verbraucht. Verschlissen. Um einer oktroyierten, befohlenen Utopie willen? Volker Brauns Bild, das die benutzten Menschen wie das sieht, was verbraucht wird, im Akt der Produktion eines falschen Fortschritts – trifft es nicht fast in ähnlicher Weise auf die in unserer gegenwärtigen, das Wachstum und den Profit vergötzenden Gesellschaft millionenfach Benutzten (ja, benutzt! aber von wem?  wenn nicht von Unternehmern, von Bürokratien, Regierungen und ihren Armeen!) und millionenfach als verbraucht und nun unnütz Weggeworfenen zu? Und auf andere Weise auf die (man zählt sie ebenfalls nach Millionen, aber sie sind noch jung), denen man von vorn herein die Möglichkeit, tätig zu sein und zugleich ihr Brot zu gewinnen, versperrt?

Wir müssen Mündige werden. Wo wir es noch nicht sind. Von Mündigkeit und der „Wahrnehmung der Freiheit“ spricht auch Reinhard Marx.(50) Wenn man das ernst nimmt, gilt es dann nicht, das Postulat zur Praxis werden zu lassen? Gilt es nicht, das zu konkretisieren? Was bedeutet die Freiheit, zwischen Galgen und Guillotine  wählen zu dürfen, zwischen Scylla und Charybdis? Ist einer, der Fähigkeiten hat, Fertigkeiten besitzt, einen Sinn  für Schönheit und für das Nützliche, der eine Vorstellung hat von seiner Arbeit, die ihm Freude macht, die er gut vollenden kann, als Schmied, als Karosserie-Schlosser, oder als Bootsbauer, wirklich frei, wenn man ihm – arbeitslos geworden – die Freiheit gibt, zu wählen zwischen Laub auffegen auf der Straße als Ein- Euro-Jobber und Erdulden der Schikanen einer Institution namens ARGE, wenn er sich weigert? Was bedeutet Freiheit bei Reinhard Marx in seiner Schrift Das Kapital, und was Würde, und ist die erwartete „Eigeninitiative“ des arbeitslosen Bootsbauers nur die, daß er irgendeine – beliebige – Lohnarbeit sucht? Im Fall des Unternehmers aber, ist da die beschworene, ihm von Reinhard Marx zugesprochene „Eigeninitiative“, „Freiheit“, „Kreativität“ – konkretisiert man sie –  nicht oft kaum mehr als das Kalkül, mit dem ein Findiger einen Trottel abzockt? Verzeiht das Burschikose des Ausdrucks, Leser! Auch die großen international operierenden Handelsgesellschaften machen oft nicht viel mehr. Vielleicht, angesichts der anderen Quantitäten, etwas von weit schlimmerer Qualität als im Fall des Hütchenspielers auf der Frankfurter Zeil.

Ja, es stimmt – wir wünschen uns, für uns selbst und für alle Menschen – Mündigkeit und die reale Möglichkeit zur „Wahrnehmung der Freiheit“: realer,  allerdings; nicht irgendeiner phantasmagorischen, vorgegaukelten.

Man kann, dieses sagend, versucht sein, Reinhard Marx recht zu geben, wenn er das Fehlende sieht, das, was auch zur  Wahrnehmung der Freiheit fehlt. Und zwar nicht in der Außenwelt, der Gesellschaft, sondern in den Einzelnen selbst. Er schwankt – stimmt es? – dieser Reinhard Marx: Spricht von uns Menschen als Subjekten, die ein Gewissen haben, in denen eine Anlage, ein menschlicher Zug als Potenz präsent ist, als offen zutage getretener oder verborgener, verdrängter, vielleicht verkümmerter Wunsch, das Gute zu suchen, gut zu leben, in Gemeinschaft, solidarisch, das Gemeinwohl nicht mit Füßen tretend.(51) Und dann heißt es, andererseits, bei ihm: „Zur Wahrnehmung ihrer Freiheit und [...] zu eigenverantwortlichem Handeln müssen die Menschen erst einmal fähig [...] werden.“(52) Das verstehe ich, das ist mir sympathisch. Diese Gleichzeitigkeit von Hoffnung, geboren aus unseren guten zwischenmenschlichen Erfahrungen, und von Skepsis, von recht skeptisch um Realismus bemühter Einschätzung der Unzulänglichkeiten von Menschen mit ihren Fehlern, Schwächen – etwas, das mit vielem zu tun hat, der Sozialisation in der Kindheit, Wunden, geschlagen durch ein Erziehungssystem, durch Andere, durch so vieles, was schmerzt. Da bin ich einig mit ihm: wir sind nicht perfekt, und erhoffen keine perfekte Welt. Wir sind Lernende. Auch zu lieben, zu helfen Lernende. Unterwegs. Es stimmt, ich könnte genau so sagen, ich bin darin einig mit Arno Grün, mit Erich Fromm, mit Ernesto Cardenal. Wir dürfen die Menschen nicht idealisieren, auch uns selbst nicht. Nichts entschuldigt unsere shortcomings, unseren Mangel an Liebe, Vertrauen, Freundlichkeit, Empathie – keine verletzende Gesellschaft. Und doch verzeiht der liebende Andere uns den Mangel, und wir ihm. (Ich weiß, es wird schwierig, wenn es um die Eichmanns geht. Bruder Eichmann? Es wird schwer, da noch zu verzeihen, selbst wenn wir ahnen, There, but for God’s grace, go I. Ein Zufall, nicht in seiner Wiege gelegen zu haben; mehr vielleicht nicht.) Also einverstanden, mit vielem. Nicht einig bin ich mit Reinhard Marx, wenn er dem zitierten letzten Satz den Zusatz hinzufügt: „...und befähigt werden“: Zur Freiheit, zum guten Handeln. Die Vielen, sagt er, sollen’s, müssen’s, oder müßten es. Von wem denn; wer befähigt sie? Wer steht ÜBER ihnen, geht voran, schenkt aus, aus dem Füllhorn, was sie nicht haben? Ach ja, die Kirche, ihr Klerus – der Lehrmeister des einfachen, noch nicht mündigen Volkes. Der Vormund. Ganz so wie die selbsternannten Avantgarden der Menschheitsbefreiung im Ostblock es zu sein versuchten. Vielleicht war darum der Haß zwischen beiden Avantgarden, beiden Priesterkasten, so tief. 

Wenn es um Partizipation geht, dann bedeutet das tatsächlich, daß wir alle das Wagnis eingehen im guten Glauben, aber wissend um Risiken, zuzustimmen, dafür aktiv einzutreten und die Realisierung des Vorhabens zu befördern, daß alle Menschen, die ganze multitude – ungeachtet des realen Grads ihrer von niemandem  abzuschätzenden oder gar zu quantifizierenden »Reife«, »Sittlichkeit«, »Intelligenz« usw. – an der Reflexion über die res publica, die öffentliche Sache, die ja auch (sobald es konkret wird, vor Ort) im direktesten, unmittelbarsten Sinn, statt nur vermittelt, indirekt, ihre eigene ist, teilnehmen können. Und ebenso an der Debatte darüber. Und dann – direkt und unvermittelt –  an den díese öffentliche Sache, die gesellschaftlichen Fragen, betreffenden Entscheidungen.

Ein Nein, also, zur Gelehrten-, zur Philosophen-»Republik«, die nur eine (vielleicht sich benevolent wollende) Despotie der vermeintlich Gebildeten wäre.

Ein Nein auch zur Herrschaft der Experten, der durch Experten beratenen Bürokraten und Technokraten, und zur abgehobenen – den Wählern zu fast nichts verpflichteten – »politischen Klasse«, die sich von den einen finanzieren, von den anderen wählen läßt, um dann Entscheidungen zu fällen, deren Orientiert-Sein am Gemeinwohl den Vielen oft absolut nicht einleuchten kann. Was diese Vielen, wenigstens zum Teil, bislang nicht unbedingt hindert, wieder wählen zu gehen und sich ein weiteres Mal enttäuscht zu sehen.

Auch wenn Wahlen und Delegierte sinnvoll sind, ist nicht annehmbar, da nicht einsehbar, wie wenig Delegierte in der Zeit zwischen den Wahlen der Bevölkerung konkret und real Rechenschaft schuldig sind. Ist nicht akzeptabel, wie schwer sie, bei Vertrauensmißbrauch, abberufbar sind. Noch auch dies: wie sehr ihr Gewissen, dem sie angeblich allein verantwortlich sind (so beschwört es »die Verfassung« – ein Menschenwerk, das nicht unfehlbar ist), oft als etwas erscheint, das sie bei der Parteiführung abgeben können. Bei jener Gruppe von Führern, Koopteuren, Postenzuschanzern, die sie – die einfachen Delegierten – auf sogenannte Loyalität zu Personen und auf Fraktionsdisziplin einzuschwören nur allzu bereit (und gewitzt) ist. Um hier von den Verführungen, die vom Lobbyismus ausgehen, gar nicht erst im einzelnen zu reden. Da erscheint dann doch die direkte Volksentscheidung zu konkreten Fragen als Korrektiv, Ergänzung und Ausdruck der aktiven, freien Einmischung der Bevölkerung in die ja sie selbst betreffenden Angelegenheiten: also als ein Ausdruck republikanischer Souveränität der Vielen. Ist das nicht demokratische Partizipation auf dem Feld des Politischen?

Und in der Arbeitswelt, in dem, was man in den Medien »die Wirtschaft« nennt, geht es da nicht auch um Partizipation der Vielen, reales demokratisch geformtes gemeinsames Entscheiden ALLER BETEILIGTEN über die entscheidenden Fragen? Also um mehr und anderes als sehr indirekte, zugleich reduzierte, auf das Mitreden bei einigen wenigen Fragen beschränkte gewerkschaftliche »Mitbestimmung«? Das ist kein Votum gegen Gewerkschaften. Wie die Parteien, müssen auch sie wohl – dies ein Vorschlag – intern demokratisiert werden. Sie sind nicht überflüssig, aber andere, direkte Möglichkeiten der demokratischen Partizipation müssen an ihre Seite treten, so kann man argumentieren, wenn es um Vorschläge zur Partizipation geht.

Mein Eindruck in Bezug auf die Schrift von Reinhard Marx ist der, das für ihn vielleicht Partizipation nur Mittun, Mitwirken ohne gleiche Rechte heißt. Wer ein Priester-Gemeinde-Schema, ein Hirt-Herde-Schema internalisiert hat, löst sich vielleicht nur schwer von obrigkeitlichen Gedankenmustern. Und der katholische Klerus, wie wohl jede Priesterkaste und Hierarchie innerhalb derselben, versteht sich wohl nur zu leicht als berufener Lehrer, als geistliche Obrigkeit. Den Gläubigen sei unbenommen, dieses Lehramt anzuerkennen. Gesamtgesellschaftlich darf man, so denke ich, dieses Muster nicht auf Verhältnisse übertragen, deren Demokratisierung immer unabweisbarer wird. Denn es sind die Experten, die professionalisierte politische Kaste oder »Klasse«, die »Wirtschaftselite«, die gesamte »Machtelite« der westlichen marktwirtschaftlichen Gesellschaften, die uns alle in die ökologische Krise, die Finanz- und Schuldenkrise, die Krise der »realen Wirtschaft«, wie sie manche nennen, und die soziale Krise geführt haben. Und die sich unfähig zu einer entschiedenen Wende zeigen.

„Der letzte Bauer im bayerischen Wald“ versteht mehr als sie.(53)
 

Die, die man – manchmal herablassend oder verächtlich – die »einfachen Menschen« nennt, haben ein klares Gespür für Gerechtigkeit, für Verlogenheit, für das Falsche. Und einen Verstand, der sie – wie alle Gebildeten und Verbildeten oder mehr – befähigt, Fragen zu stellen, Antworten zu suchen, Lösungen zu entwerfen.

Vertrauen wir einander!
Wir werden auch Fehler machen, und werden lernen.
Für ein besseres Zusammenleben, den Schutz des Lebendigen,
für das Unrecht korrigierende, freundliche Gerechtigkeit.
Für Teilhabe, für die Freiheit, mitzudenken, zuzuhören und gehört zu werden, mitzuentscheiden.

Mmmm. Ist das sehr idealistisch –  abgehoben von den realen Verhältnissen, ihrer Bedrückung und Unterdrückung, ihren Zwängen und unseren Schwächen –  gedacht?

Bei Reinhard Marx – ich sagte es schon –  gründet sich der Entwurf einer auf Beteiligungsgerechtigkeit und damit Partizipation gegründeten guten, gerechten Gesellschaft auf eine Vorstellung des Menschen als einem Wesen, „daß [...] ein sittliches Subjekt ist, das darauf angelegt ist, das Gute zu suchen, gut [im doppelten Sinn] zu leben, ein Gewissen zu haben. Das ist ein Anspruch, der am Anfang stehen muß.“(54)

Das heißt doch: der Mann formuliert ein Postulat und zugleich eine Sicht des Menschen – auch aus Erfahrung mit Menschen und aus Selbsterfahrung gewonnen – , die „am Anfang“ stehen muß. Das ist also zu verstehen als ein Ausgangspunkt für etwas, das eine Reflexion, eine Hoffnung, ein Projekt (im Sartreschen Sinne) ist.  In seinem wesentlichen Sinne drückt das von Reinhard Marx Formulierte auch George Orwells Vertrauen in die basic decency der Leute aus.  Also in die tendenziell mögliche und immer wieder bei vielen erfahrbare grundsätzliche Anständigkeit der sogenannten einfachen Menschen: diese Hoffnung Orwells, die ihn – den aus Negativerfahrung in Spanien zum  Pessimisten Gewordenen, den Skeptiker, was Parteien und Diktaturen angeht – sagen ließ: „There is hope in the proles“, Es sind die Prolos, die Proleten, die einen hoffen lassen. Daß auch diese Hoffnung durch partikuläre Erfahrungen bei manchen zerstört werden kann, steht auf einem anderen Blatt; die gemachten Aussagen sind eben doch Hoffnungen, Erkenntnisse des Schon (hier und da, und viel weiter gehend, als manche ahnen) Vorhandenen, des Vorscheins (Ernst Bloch). – Und des Möglichen.(55)

Den Menschen, uns allen also, ist zu trauen. 
Den Menschen: Wenn sie sich nicht der Macht verschreiben.
Wenn sie sich nicht um jeden Preis am großen, über andere Menschen reale Macht verleihenden Eigentum festkrallen.
Es sind dies wohl die beiden großen Verführungen, für eine jede und einen jeden von uns.

Arno Gruen, ein bemerkenswerter Denker, entwarf das Ziel einer solidarischen Ökonomie. Er sagte nicht, wie Reinhard Marx, solidarische Marktwirtschaft. Da ist die Nähe der beiden Ziele, und der Unterschied.

Letztlich spüren viele von uns in den Mitmenschen das Bedürfnis nach Freundlichkeit, Kooperation, Solidarität, den Wunsch, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse nicht getrennt zu sehen von der Erfüllung der Bedürfnisse der Anderen: aller Menschen.

Letztlich wünschen wir Frieden, Freundlichkeit, ein Miteinander. Keinen Kampf bis aufs Messer –   zwischen Staaten, Klassen. Auch nicht mehr zwischen  Beschäftigten in einem Betrieb: Menschen,  von denen jeder Angst hat vor Entlassung und mit schlechtem Gewissen, pervers, „hofft“, es möge immer nur der Andere sein, der gefeuert wird. 

Wir ahnen aber, oder erfahren es hautnah, auf der Straße, wenn wir unsere Sehnsucht nach dem Anderen, Besseren, Humaneren artikulieren, daß diejenige an der Regierung und all die wirtschaftlich Mächtigen hinter ihnen, die ihnen zuflüstern, daß sie, die wir einbeziehen wollen in die Freundlichkeit einer menschlichen Welt, ihre Einsatzkräfte, ja ihre Armee auszuschicken bereit wären, um jeden realen Versuch von Veränderung, der bedeutsam wäre, im Keim zu ersticken.

Wie Thoreau, wie Gandhi, wie Martin Luther King, wie Mandela brauchen wir einen langen Atem.

Vielleicht sind wir in vielem einem Reinhard Marx, der noch an Hierarchien, an Über- und Unterordnung, an der Verteidigung von Privilegien festhält, nicht unähnlich. 
In unseren Unzulänglichkeiten, als Menschen.
Auch in unserer Hoffnung, die wir – wie er – in Menschen setzen. 
Daß ein Reinhard Marx seine Hoffnung auf den Menschen, auf alle Menschen  richtet, ist ihm nicht vorzuwerfen.(56)  Er ist darin seinem Namensvetter Karl Marx näher als Orwell, denn Marx ging von der Entfremdung aller Menschen (der Angehörigen der Arbeiterklasse wie der Kapitalisten) aus und setzte seine Hoffnung in die Möglichkeit der Emanzipation aller Menschen – und durchaus nicht nur die der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der Arbeiter. Als einziger Unterschied zwischen beiden Klassen, in Bezug auf Entfremdung und Emanzipation, galt ihm, daß die herrschende, besitzende Klasse sich in ihrer Entfremdung wohlfühlt, während die Angehörigen der Arbeiterklasse an ihr leiden. Daß die einen, die Arbeiter, letztendlich ein Bedürfnis nach (Selbst-)Befreiung verspüren müssten und sich auch nur selbst befreien können, während die Anderen alle Veränderung zum Besseren aus kurzsichtigem Eigennutz zu verhindern suchen, war die wesentliche Erkenntnis.(57) 

Es ist bekannt, daß Karl Marx seinerzeit eine politökonomische Analyse und Kritik der von ihm beobachteten  Produktionsweise anhand empirischer Daten darbot, die er mit einer theoretischen Rekonstruktion der vorliegenden Klassenverhältnisse verband. Im Kontrast zu allen sozialistisch orientierten Vorgängern vermied er es strikt, einen Bauplan für eine andere, nicht mehr auf Lohnarbeit gegründete, freiere, demokratischere Gesellschaft zu liefern. Eine solche Zukunftsvision wäre Ausdruck eines idealistischen Dogmatismus und bloße Utopie im schlechten Sinne des Wortes gewesen. Die Kritik zeigte die Schranken, Irrationalitäten, Unmenschlichkeiten einer gegebenen Gesellschaftsordnung auf, die – wie viele heutige Philosophen, Ökonomen und Soziologen feststellen – immer noch, trotz ihrer Dynamik, ihrer internen Veränderungen, ihrer Flexibilität, im wesentlichen als kapitalistische Wirtschaftsordnung weiter besteht. Sind wir nicht verpflichtet, nach neuen Wegen zu suchen, wenn wir die Aufgabe ernst nehmen, das Unrecht infrage zu stellen, zur möglichst weitgehenden Behebung des Mangel an realer demokratischer Teilhabe der Massen beizutragen und die Irrationalität des Marktes, der an den wirklichen Bedürfnissen oft vorbei, nie um ihrer willen, oft Ressourcen verschwendend und Natur zerstörend das Wachstum der Produktion, des Umsatzes, um des fetischisierten Profits willen fetischisieren macht,  zu überwinden?(58) Wir, das sind alle Menschen, in einem gewissen Sinne, nämlich der Möglichkeit nach. Und konkret, faktisch: die Erniedrigten, die aufwachen, die aufstehen, erfüllt von dem Wunsch nach dem Guten. Nach Selbstbestimmung. Nach gerechtem und vernünftigem und liebevollem Umgang mit einander, mit den Resourcen, mit der Natur.  Und die Privilegierten, die bereit sind, sich von ihren Privilegien zu verabschieden und sich den Anderen, von denen die Rede war, anzuschließen. Eine neue Welt ist möglich, eine andere, gerechtere Gesellschaft, sagen inzwischen schon längst viele der jungen Leute – nicht nur oder vor allem Studierende, wie 1968. Und sie finden Weggefährtinnen und Weggefährten in Menschen mittleren Alters und in nicht wenigen Alten.(59) Bedeutet es nicht eine menschliche Hoffnung, eine Chance, zu sehen: Alles ist offen, nichts vorgeschrieben, festgelegt? Nein, nichts festgelegt und vorgezeichnet, es sei denn, wir denken an die Begrenzungen und Beschränkungen, die uns ein vor dem Umkippen stehendes Klima, fast schon leergefischte Meere, die verpestete Luft der Städte und die fortschreitende Vergiftung von Böden und Grundwasser auferlegen. 

Die alten Versuche, das Neue zu schaffen, sind an den Umständen und auch an Menschen, die irrten, die zum Teil auch macht- und privilegienfixiert waren, gescheitert. Das irritierte, das entmutigte einige eine Zeit lang. Es ist auch ein guter Grund, sich von Fixierungen zu befreien. Wir sind wirklich aufgerufen, als heutige Erdenmenschen, frei, demokratisch, solidarisch einen Weg zu finden.

Kein fertiger Bauplan, also, der leitet. Stattdessen: die Deliberation, die Debatte. Das gemeinsame Nachdenken. Und das Besprechen der Probleme. Auch der Leiden, der Beschwerden, die man vortragen wird. Schließlich die Erörterung all dessen, was man vorbringen wird, an praktischen Lösungen, für praktische Probleme. Sie sind es, solche Prozesse, die uns – dank der dann gemeinsam getroffenen Entscheidungen – einen Schritt, einige Schritte weiter bringen: so  hoffen viele. Zu einer besseren, tendenziell guten Gesellschaft, einer realeren Demokratie
 

Anmerkungen

* Die hier benutzten Anführungszeichen ( »... «) sollen ein »so genannt« (»so-called; soi-disant«), also eine gewisse Distanzierung von einem Begriff andeuten. Etwa einen Hinweis darauf, daß es sich um einen in mainstream Diskursen gängigen Begriff handelt: damit bisweilen quasi um einen Topos, vielfach etwas Vages, viele Interpretationen Zulassendes. Vielleicht  auch etwas, das hinsichtlich seiner Implikationen zu reflektieren wäre. Die gängigen Anführungszeichen („........“) besagen, daß es sich um ein Zitat handelt; eine Anmerkung verweist in der Regel auf die Quelle. Eckige Klammern [.....] verdeutlichen von mir in zitierte Passagen eingefügte gedankliche Ergänzungen, Verdeutlichungen, bisweilen Kommentare. J.W.

(1)Auch die Schere zwischen »arm« und »reich« geht in China längst, ganz wie in den sogenannten hochentwickelten Ländern, eklatant auseinander. Auseinanderdriften von Boom-Zonen und nicht nur stagnierenden, sondern relativ gesehen stark zurückfallenden Regionen, Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wachsende Ungleichheit, relativ Armut der Masse, Luxus bei Anhäufung riesiger liquider Summen und Verfügungsgewalt relativ weniger über die großen Unternehmen im privaten Sektor der Wirtschaft: ist das der erhoffte Fortschritt?
Über  die ökologischen Folgen unseres auch von China, Indien und Brasilien – wenigstens in vieler Hinsicht – kopierten Wachstumsmodells informierte soeben ein UN-Bericht. Siehe: Daniel Politi, “Ocean Life Facing Mass Extinction”, in: Slate, 21.6.2011 http://slatest.slate.com/posts/2011/06/21/ocean_mass_extinction_report_warns_
of_unprecedented_losses.html?from=rss/&wpisrc=newsletter_slatest; Sylvia Earle, “If the sea is in trouble, we are all in trouble”, in: The Independent, 21.6.2011 http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/sylvia-earle-if-the-sea-is-in-trouble-
we-are-all-in-trouble-2300273.html; Jean-Luc Solandt, “The oceans may have already passed breaking point”, in: The Independent, 20.6.2011 http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/jeanluc-solandt-the-oceans-may
-have-already-passed-breaking-point-2300359.html ; Thair Shaikh, “Marine life facing mass extinction, report says”, in: CNN, 21.6.2011 http://edition.cnn.com/2011/WORLD/europe/06/21/ocean.extinction.global.warming/

(2) Siehe u.a., was die Vorbereitung der dann von Obama angeordneten Zurücknahme von EPA-Bestimmungen zur Reduktion von carbon emissions angeht, die folgenden Beiträge: (a) Ben Dimiero, “FOXLEAKS: Fox boss ordered staff to cast doubt on climate science”, in:  Media Matters for America , December 15, 2010  http://mediamatters.org/blog/201012150004;  (b) “The opening salvoes have been fired in a new political battle in the US over greenhouse gas emissions. Having failed to pass legislation through Congress, President Obama wants the Environmental Protection Agency (EPA) to regulate emissions. But draft measures before Congress seek to squash the EPA's authority. Testifying to a congressional committee, EPA chief Lisa Jackson said the bill ran counter to science [...]”  Richard Black, “New battle opens on US carbon emissions”, in:  BBC 10 February 2011. http://www.bbc.co.uk/news/science-environment-12416621;   (c)“Another day of intense negotiations between the two parties failed to yield a budget deal on Thursday, leaving the federal government hours from a shutdown. [...] Also at issue were measures that would restrict the regulatory powers of the Environmental Protection Agency, a favorite target of Republicans since they took over the House, by preventing the agency from enforcing significant portions of the Clean Air Act and regulating carbon emissions."  Carl Hulse, “No Accord in Budget Talks as Policy Fights Hamper Deal”, in: New York Times,  April 7, 2011, p. A1 (Online version: http://www.nytimes.com/2011/04/08/us/politics/08congress.html?_r=1.
-  Das Kürzel EPA steht übrigens für Environmental Protection Agency: Umweltschutzbehörde.

(3) Cf. WDR5 Bericht am 20.Juni 2011. – Diese Strategie ist übrigens ganz im Sinne der Nuklearindustrie, also der oligopolistischen Energiekonzerne und der Atomreaktoren herstellenden, international tätigen Konzerne wie Westinghouse, General Electric und Siemens, die scharf auf das profitable, staatlicherseits mit Hunderten von Millionen von Dollars bzw. Euros subventionierte Geschäft sind. 
Manipulation der öffentlichen Meinung statt eine wirkliche Wende ist angesagt. Schon der »Atomkompromiß« der rot-grünen Regierung in Deutschland ließ übrigens – wie Skeptikern von Anfang an klar war und wie sich dann auch für die Gutgläubigen herausstellte – Türen für den »Ausstieg aus dem Ausstieg« offen. Es ist klar, daß dasselbe für die derzeitige »Wende« in der Atompolitik der schwarz-gelben Regierung unter Merkel möglich bleibt. Was wird, ob die Wende tatsächlich erfolgt, ist bislang offen.

(4) Bezogen auf den „Faktor des Bösen im Leben“ schreibt übrigens Jules Henry: „Es hat sich noch keine Kultur gefunden, in der nicht ein permanenter feindlicher Faktor dazu diente, das Volk zu erschrecken und zusammenzuhalten sowie abweichende Meinungen zu ersticken. Im Stammesleben bestehen diese bösen Wesen aus Monstren oder Geistern und äußeren Feinden, die aus Tradition als unaufhörliche Gefahr [...] gekennzeichnet sind. [...] In unserer Zeit wird im Gegensatz zur Stammeswelt das Böse nicht mehr durch Tradition festgelegt, und die Gruppe, die sich an der Macht befindet, behält sich das Recht und die Macht vor, den Feind zu bestimmen. Diese Bestimmung wird dann zu einem Teil des Sozialsystems: Die Kinder in der Volksschule erhalten Unterricht über den Widersacher; die Massenmedien rufen seinen Namen mit der nötigen Vehemenz aus; der Feind geht in das Rechtssystem ein [...] Er nimmt den Charakter der Unentrinnbaren an, den der primitiven Halluzination, und der Zweifel an seiner Existenz  zieht die uralten sozialen Sanktionen nach sich. [...] Mit der Wahnvorstellung [von diesem Bösen] [...] wird die Grundtendenz des Menschen ausgenutzt, einen Teil des Universums als böse zu kennzeichnen, und zwar, um das [...] Volk kriegswillig zu machen.“ (J. Henry, S.57f.) – Die Analyse mag das Problem des Bösen wie auch die gesellschaftliche Basis aller abstrakt eine Polarität (oder binäre Struktur) von »gut« vs. »böse« postulierenden Diskurse und Ideologien nur partiell erfassen. Sie wirft aber ein bezeichnendes Licht auf Dämonisierungen, wie sie – zumal in der US-amerikanischen Politik – im Hinblick auf den Hauptgegner im Kalten Krieg, dann in Bezug auf Milosevic, auf Saddam Hussein, auf die Taliban und schließlich Gaddafi ins Spiel gebracht wurden. – Eine realistischere Auffassung als jene, die lediglich in wenn auch begründeter Weise auf die Funktion eines »das Böse« entäußernden, es isolierenden und »uns, den Guten«  gegenüberstellenden Diskurses abhebt,  könnte die sein, die im Menschen eine gleichzeitige, aber oszillierende, also in ihrem jeweiligen relativen und absoluten »Gewicht« variable  Existenz von lebensbejahenden, kreativen und von destruktiven sowie autodestruktiven »Impulsen« (unbewußten sowie bewußten Willens-Regungen und/oder »Trieben«) annimmt, die auch auf Außenimpulse antworten. Und zwar – in von der spezifischen psychischen Entwicklung (die bislang zumeist in familiäre und damit gesellschaftliche Kontexte eingebettet ist) und in von weiteren, meist später hinzutretenden gesellschaftlichen Umständen bzw. Verhältnissen abhängender Weise – in jedem Menschen. Und der Einzelmensch kann vielleicht verstanden werden als denkender, fühlender, träumender –  mit einem Wort, als beseelter –  Leib: als ein Leib/Bewußtsein-Kontinuum, wie es Merleau-Ponty in seiner Philosophie der Leiblichkeit sah, die den Leib/Seele- bzw. Körper/Kopf-Dualismus zugunsten einer monistischen Auffassung aufzuheben sucht. Vielleicht ist dieser Mensch ja einem System kommunizierender Röhren vergleichbar – in sich selbst, als Einzelwesen und in Bezug auf die Gesellschaft, als das gesellschaftliche Wesen, das er zugleich ist.
(Jules Henry, „Soziale und psychologische Kriegsvorbereitung“, in:  David Cooper, hrsg., Dialektik der Befreiung, Reinbek (Rowohlt) 1969, S.44-60)

(5) Reinhard Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen. München (Knaur Taschenbuch) 2010 

(6) Ebenda, S. 49 

(7) Er bezieht sich z.B. in seiner Schrift u.a. auf Autoren wie Theodor W. Adorno, Michel Albert, Manuel Castells, Jürgen Habermas, und Max Horkheimer.

(8) Reinhard Marx, ebenda, S. 155

(9) Ebenda, S.154)

(10) Dafür sprechen in Italien soziale Bewegungen wie die der carbonari und illuminati, die in den Revolutionen in Palermo und Neapel den Zündfunken lieferten, in Frankreich die Bünde der Anhänger Blanquis, Cabets, St. Simons, Proudhons, das Feuer der Aufstände 1830-31 und 1848, in Deutschland und noch mehr unter deutschen Handwerkern in Paris, Zürich, Brüssel und London die weite Verbreitung vor allem französischer radikaler Ideen durch Max Grün, Weitling und andere, und schließlich, im Anschluß und als Weiterführung des Bundes der Gerechten das Entstehen der Strömung, die mit den Namen von Ruge, Marx,  Engels, Heinrich Heine usw. verknüpft ist. Gerechtigkeit war ein zentrales Anliegen des einfachen Volkes; der Jesuit in Palermo, dem Reinhard Marx das Kreieren des „neuen Begriff[s]: soziale Gerechtigkeit“ zuschreiben möchte (Ebenda, S.154), griff das Thema lediglich auf.

(11) Man denke an die Zehntausende von indignés auf dem Puerta del Sol Platz in Madrid, an die große Zahl der Protestierenden in Barcelona und vielen anderen spanischen Städten, an Hunderttausende Griechen, die in Athen, Thessaloniki, Patras, auf Kreta etc. auf die Straße gehen, an Proteste in Italien, an die, welche in Deutschland und Großbritannien und anderswo skandieren: „Wir zahlen nicht für eure Krise“, nicht zuletzt an fortschrittliche katholische Protestierende, die sich z.B. Disarm Now und Justicia y Paz verbunden fühlen.

(12) Reinhard Marx, ebenda, S. 155

(13) Das ist ein entscheidender Punkt. Die katholische Sozialethik, in ihrer dominanten Version, läuft gerade auch im derzeitigen -  von jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit, Massenverarmung, und  in immer schnellerer Folge auftretenden Krisen geprägten –  europäischen Kontext hinaus auf eine prinzipielle, wenn auch Kritik an sogenannten »Exzessen« zulassende – Verteidigung des Status Quo. Es geht einem Autor und Funktionsträger der Amtskirche wie Reinhard Marx dabei ganz klar um den Versuch einer weiteren Festigung eines inzwischen längst bröckelnden gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der sich als auf diesen flexiblen Status Quo eingeschworen erweist: auf die „Marktwirtschaft“, auf das „Eigentum“ der Unternehmer und Unternehmen, auf ihre Eigentumsrechte, einschließlich des Rechts auf Gewinn, wobei aber (wirkungslos, ohne auch nur im entferntesten an  praktische Gegenmaßnahmen zu denken, geschweige denn, sie energisch vorzuschlagen) das Exzessive derselben und in Einzelfällen die fehlende soziale Verantwortung von Unternehmen beklagt werden darf. Solche Zulassung von Kritik entlastet das Gewissen – und stabilisiert, so scheint gehofft zu werden – vielleicht noch einmal den Konsens und die Illusion des fairen Interessenausgleichs, zwischen den wenigen »oben« und den vielen »unten«.

(14) Bei Reinhard Marx heißt es dazu: „Einerseits werden Kreativität, Eigenverantwortung und die Freiheit des Menschen und damit auch der Markt und die Wettbewerbsordnung bejaht. Aber es werden auch solidarische gesellschaftliche Strukturen [außerhalb des Marktes mit seiner Konkurrenz, seiner Ungleichheit der Marktmacht der Marktteilnehmer, also außerhalb der Arbeitswelt und außerhalb weiterer wichtiger Bereiche der Lebenswelt der Unteren, soweit sie nämlich Kunden, Mieter, Käufer des Zugangs zu Kulturveranstaltungen etc. sind] und ein starker, dem Gemeinwohl verpflichteter Staat  gefordert.“ [Hinzufügungen in eckigen Klammern immer von mir, JW]  Dieses „einerseits – andererseits“, diese Verbindung einer auf Konkurrenz, auf Gegeneinander statt Solidarität gegründeten harten und kalten Wirtschaftsordnung, die Unternehmern wie Beschäftigten „Eigenverantwortung“ (rette sich, wer kann – das Leben) abverlangt, mit „sozialstaatlichen Instrumente[n]“, mit „sozialen Sicherungssysteme[n]“ und auch einem adäquaten (aber nicht weiter präzisierten) Steuersystem macht den Kern des Konzepts aus. (Reinhard Marx, ebenda, S.183) -  Die begriffliche Koppelung von »sozial« und »Markt« wird offenbar als fast schon hinreichender Ausdruck einer fairen und ausgewogenen, auf Interessenausgleich bedachten politischen Position verstanden, ohne daß die Apologeten dieser Ordnung zur Kenntnis nehmen, daß ganz im Sinne der filtering down Theorie den Unteren immer nur die vom Tisch der Herren fallenden Brosamen zugedacht waren und daß selbst in Bezug auf diese das Prinzip der sozialen Kälte und der austerity inzwischen auf sehr heftige und unmißverständliche Weise Einzug gehalten hat. Wenn die »sozialen Marktwirtschaft« des sogenannten rheinischen Kapitalismus im »sozialdemokratischen Jahrzehnt« (ca. 1965-75)  die Klassenantagonismen milderte und in ein rosa Licht tauchte, so ist inzwischen längst jene Härte eines Klassenkampfs von oben gegen die Unteren zurückgekehrt, die schon weite Teile des 19.Jahrhunderts und die Jahre der Great Depression im Anschluß an den Börsencrash von 1929 ausgezeichnet hatte. Man muß allerdings zugeben, daß die de facto realisierte Ordnung nicht das größtmögliche Gute, das dem Sozialethiker Reinhard Marx wünschenswert erscheint, bereits erreicht ist. Er hält fest: „Was mir vor dem Hintergrund dieses [das in Deutschland Erreichte wohlwollend, wenn nicht apologetisch beschreibenden] Denkens [als Orientierung oder Ziel] vorschwebt, ist eine solidarische Marktordnung.“ (Ebenda, S.183) Ist das, was dieser Begriff ausdrückt, aber nicht ein Widerspruch in sich, weil darin die Marktdynamik verkannt wird?

(15) Reinhard Marx, ebenda, S.184

(16) Eine nicht vor allem das Eigentum des Einzelnen als zentrales naturrechtliches Moment verstehende Auffassung des Naturrechts findet sich bei Ernst Bloch. Siehe: Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1985;  Französ. Ausgabe: Droit naturel et dignité humaine, trad. de l'allemand par Denis Authier et Jean Lacoste, Paris(Éd. Payot et Rivages) 2002 ; English edition: Natural Law and Human Dignity, transl. by Dennis J. Schmidt, Cambridge MA (MIT Press)1986

(17) Reinhard Marx, ebenda, S.157

(18) Ebenda, S.157

(19) Estes Kefauver, In a few hands. Monopoly Power in America.New York, NY (Pantheon Books) 1965. [Paperback edition: Harmondsworth (Penguin Books) 1966]

(20) Also, armer Schlucker, arbeite auch wie die Mellons,  Morgans, Rockefellers, wie vor kurzem noch die Lehman Brüder, wenn du, wie sie es können oder konnten, „Vorteile“, die sich auf Hunderte von Millionen, vielleicht  sogar auf eine Milliarde Dollar  belaufen, dein Eigen nennen willst. -  Läuft die Argumentation des Sozialethikers nicht darauf hinaus? Siehe Reinhard Marx, ebenda, S. 157

(21) Vgl., um des Kontrastes willen, die Position von Ivan Illich, der nicht im Interesse der herrschenden Sozialpolitik die Arbeitslosen abstrakt zur Eigenverantwortlichkeit für ihr Schicksal aufruft, sondern konkret für ihre Rechte eintritt: Ivan Illich , Le Chômage créateur: postface à "La Convivialité" / Ivan Illich; traduit de l'anglais par Maud Sissung, Paris ( Éditions du Seuil) 1977. [Traduction de : The Right to useful unemployment and its professional enemies]

(22) Reinhard Marx, ebenda, S. 157

(23) Fleiß, Kreativität, Wagemut: Dies sind alles Begriffe, die Reinhard Marx zur Charakterisierung der »Arbeit« des Unternehmers, die sein selbst erarbeitetes Eigentum als Summe der aus seinem Tätigsein erwachsenen »Vorteile« begründet, einfallen. –  Ebenda, S.157
Was den oben angedeuteten kreativen und wagemutigen Bruch von Gesetzen angeht, so sei etwa an das Akquirieren von Großaufträgen im Ausland durch Bestechung erinnert, das kürzlich wieder – im Fall von Siemens (ein Unternehmen von vielen, das aber erwischt wurde) – Schlagzeilen machte, an das trotz einer gegenteiligen Verfügung des Eisenbahnbundesamtes begonnene Abreißen des denkmalgeschützten Stuttgarter Hauptbahnhofs durch die Deutsche Bahn AG (wobei man einem Gericht das bereits eingegangene Schreiben des Eisenbahnbundesamts vorenthielt, als Bürger wegen der Illegalität des Vorgehens einen Stop der Abrißarbeiten gerichtlich durchzusetzen versuchten); an das wenig integre Verhalten der Deutschen Bahn AG, die trotz der letztes Jahr im Mediationsverfahren gemachten Zusagen ungerührt an dem S-21 Projekt weiter arbeiten läßt; an die trotz der Feststellung der Illegalität durch ein Gericht kaltblütig weitergehenden Arbeiten an einem Kohlekraftwerk am nicht nur formal (planungsrechtlich) unzulässigen, sondern durch ein Ammoniaklager materiell die Anwohner extrem gefährdenden Standort bei Datteln. (Der Standort des  Kohlekraftwerks bei Datteln wurde, einem Bericht des WDR zufolge, durch das Unternehmen eigenmächtig um 5 km bis dicht an eine existierende Wohnsiedlung verschoben. Man hat bereits viel Geld verbaut, um Fakten zu schaffen. Die »Politik« und der Kommunalverband Ruhr überlegen derzeit offenbar, wie sie eine flagrante primäre Rechtsverletzung und anschließende Rechtsbeugung in Gestalt des offenkundigen unternehmerischen Ignorierens eines gerichtlichen Verbots, weiterzubauen, zum Nachteil der direkt betroffenen Bevölkerung durch Verfahrenstricks legalisieren können.)

(24) Reinhard Marx, ebenda, S.157

(25) Ebenda, S.157 – Das Recht der Unternehmen bzw. Unternehmer auf eine „Chance auf Gewinn“ – in der Praxis, auf den maximal möglichen – ist der derzeit dominanten Interpretation der katholischen Sozialethik zufolge zu verstehen als ein aus dem Eigentum, also dem Eigentumsrecht des Unternehmers bzw. der Aktionäre, abgeleitetes Recht.

(26) Ebenda, S.184

(27) Ebenda, S.184

(28) Ebenda, S.231

(29) Ebenda, S.184

(30) Ebenda, S.240

(31) Auf die unter Reagan, den beiden Bushs, aber auch unter Clinton mehr oder weniger systematisch betriebene Politik der Schwächung der US-amerikanischen Gewerkschaften hat u.a. Noam Chomsky wiederholt hingewiesen. Es waren einzelne Firmen wie Caterpillar und American Airlines, die offenbar zunächst mit rigorosen, die geltenden Arbeiterschutzgesetze (labor acts) mehr oder weniger systematisch brechenden Praktiken  vorangingen, was der breit angelegten Attacke auf die Beschäftigtenrechte den Weg bahnte. In Großbritannien brach die Thatcher-Regierung anläßlich des großen  Bergarbeiterstreiks der britischen Gewerkschaftsbewegung fürs erste den Rücken, und zwar durch Privatisierung der staatlichen Minen und Änderung der gesetzlichen Grundlagen bezüglich des Streikrechts. Erst neuerdings entstehen neue, kleine, »flexibel« militante Gewerkschaften, die wieder erfolgreich Arbeitskämpfe führen können. In Frankreich hat das Patronat auf seine Weise längst für einen niedrigen Organisationsgrad der Beschäftigten gesorgt. Die Stärke und Militanz der Gewerkschaften zeigt sich im  öffentlichen Sektor: nach der Privatisierung von Renault vor allem bei den Beschäftigen des Energieunternehmens EdF und bei der Staatsbahn SNCF – also bei zwei Unternehmen, auf deren baldige Privatisierung sowohl die Europäische Kommission (eine Kommission im Dienst der Konzerne, beflügelt von einer neo-liberalen Ideologie) und die konservative Sarkozy-Regierung setzt. In Deutschland hat die in der jungen Bundesrepublik unter konservativen Regierung geschaffene gesetzliche Grundlage, die Aussagen zur Friedenspflicht macht, auf dem Wege der Mitbestimmung integriert und politische Streiks illegalisiert, vor allem aber Gewerkschaften für etwaiges, die Unternehmen »unzulässig schädigendes« Verhalten finanziell haftbar macht, Jahrzehnte lang für eine Zähmung der Arbeiterbewegung gesorgt, wobei Unzufriedenheit der Unteren wie in den Niederlanden durch korporatistisches Aushandeln von (vor allem tarifbezogenen) Kompromisses gedämpft wurde. Nur in den späten 60er und frühen 70er Jahren gab es der gewerkschaftlichen Kontrolle entglittene, militante wild cat Streiks, etwa bei Opel in Bochum, bei Ford in Köln und bei Mercedes. Im Kontext der seit den 90er Jahren veränderten politischen und gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die weltweit zu verstärkten Privatisierungsbemühen und Deregulierungsvorhaben sowie neuen, ungewöhnlich scharfen Angriffen auf den Lebensstandard der Beschäftigten führten, hat die rot-grüne Regierung in Deutschland während der wenigen Jahre ihrer Amtszeit durch ihre Deregulierung des Arbeitsmarkts und die begleitende Politik des Sozialabbaus mehr zur Schwächung der Gewerkschaften und dadurch indirekt zum Verlust des Vertrauens der Beschäftigten in die Fähigkeit der Gewerkschaften, ihre Rechte zu schützen, beigetragen als dies die konservative Regierung unter Kohl angesichts des befürchteten Widerstands in ihrer Amtszeit je gewagt hat. Die Phase korporatistischen Aushandelns ist daher – wenigstens  in der Tendenz –  einer neuen Ära des tendenziellen Unternehmer-Diktats gewichen.

(32) Reinhard Marx, ebenda, S.157

(33) Ebenda, S.157

(34) Was das Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit in den sogenannte hochentwickelten Industrieländern des Westens angeht, so ist übrigens daran zu erinnern, daß es von den offiziellen Statistiken in der Regel verschleiert wird. In den USA liegt die von kritischen Wissenschaftlern berechnete reale Arbeitslosenquote mit etwa 23% im nationalen Durchschnitt weit über dem von der Regierung zugegebenen Wert. In Ländern wie Deutschland ist es zumindest der Tendenz nach ähnlich. Hinzu kommt, daß »Erfolge der Arbeitsmarkt-Politik« oft mit Tricks ergaukelt werden. Die Clinton-Regierung war »sehr erfolgreich« bei der Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit, indem sie (1.) durch Änderung der Definition von »Arbeitslosigkeit« viele Menschen aus der Statistik fallen ließ; (2.) überhaupt die direkte, auf komplizierte Berechnungen verzichtende Vergleichbarkeit der statistischen Werte, die vor und  nach ihrer »Reform« erhoben wurde, verunmöglichte; (3) u.a. durch Schaffung von public works Programmen Billiglohn-Jobs in erheblicher Zahl schuf, was z.B. zu befristeten Stellen für alleinerziehende Frauen, denen die Sozialhilfe entzogen wurde, führte. Solche Jobs mit z.T. niedrigsten Anforderungen bezüglich der Qualifikation waren nicht unbedingt sinnvoll, wenn etwa zwei zur Absicherung einer Straßen-Baustelle eingesetzte Personen lediglich die Funktion einer automatischen Ampel-Anlage übernahmen. Die Strategie, die Werte der Arbeitslosen-Statistik nach unten zu drücken, um politisch einen Erfolg reklamieren zu können, führte neben einem starken, so vorher seit den 1930er Jahren nicht mehr gekannten Anstieg der working poor zu einem erschreckenden Anstieg der Zahl der Obdachlosen, wobei es sich nun nicht mehr um bums, hobos, alcoholics, also vom Leben schon lange aus der Bahn Geworfene oder »freiwillig« die »Freiheit« des Unterwegs-Seins Suchende handelte. Sondern um Menschen, die vielleicht vor einem Jahr noch eine reguläre Arbeit gehabt hatten und vor kurzem noch ein Haus oder eine Wohnung. – In Deutschland hat die Wende von 1989/90 eine ähnliche Entwurzelung vieler, vor allem junger Menschen aus der ehemaligen DDR hervorgebracht. Und der »tolle Reformeffekt« der Schröderschen Arbeitsmarkt- und HartzIV Reform war neben dem Abbau der Zahl regulärer, nicht befristeter und tariflich entlohnter Vollzeit-Arbeitsplätze das enorme Anschnellen der Zahl der arbeitenden Armen, von denen diejenigen, die unter eine bestimmte, sehr niedrig angesetzte Einkommensgrenze fallen, den Anspruch auf staatliche Transferleistungen haben, die materialiter eine indirekte Lohnsubvention für die Unternehmer darstellen. Direkte Lohnkostenzuschüsse für das – de facto fast immer befristete – Einstellen von Langzeitarbeitslosen kommen hinzu; auch diese Maßnahme hatte, ebenso wie die Legalisierung nicht-sozialversicherungspflichtiger 400-Euro-Jobs,  z.T. den Effekt, daß nicht wenige Betriebe Vollzeitarbeitskräfte entließen, um lohnsubventionierte ältere Langzeitarbeitslose und/oder nicht-sozialversicherungspflichtige 400 Euro brutto im Monat verdienende Kräfte einzustellen. Es ist zu fragen, ob »prekäre« Arbeitsverhältnisse, unfreiwillige Teilzeit, aufgezwungene Tätigkeit als Leiharbeiter ebenso wie das »Parken« von Menschen in Transfergesellschaften und in oft sinnlosen Umschulungsmaßnahmen nicht allesamt geeignet sind, das tatsächliche Ausmaß der von der Wirtschaft produzierten »Redundanz« zuvor voll und ganz berufstätiger Menschen zu verschleiern.

(35) Reinhard Marx, ebenda, S.183

(36) Ebenda, S.180

(37) Im Fall von Griechenland - ein Land, dessen Wirtschaftselite im Bankensektor und im Schiffahrtssektor, aber auch mit der Immobilienspekulation viel Geld verdient, andererseits aber oft im Ausland residiert und schon deshalb kaum oder gar keine Steuern zahlt – steht die sozialdemokratische Regierung angesichts der Staatspleite mit dem Rücken zur Wand; die private lenders verlangen inzwischen bei griechischen Staatspapieren eine Rendite von etwa 30 Prozent pro Jahr, bei gleichzeitigen flankierenden Maßnahmen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, die das Risiko mindern sollen. (   ) Es ist kein Geld da? Ach was:  „il mercato dei bond è «molto liquido»“ - der Markt für Staatsanleihen ist äußerst liquide.  (Peter Allwright von RWC Partners, zitiert bei N.N, „Standard & Poor's taglia rating di Grecia e Portogallo“, in: L’Unità, 29.März 2011 http://www.unita.it/economia/standard-poor-s-taglia-rating-di-grecia-e-portogallo-1.279541  ) Das heißt, die Investoren verfügen über riesige finanzielle Mittel: es ist lediglich die öffentliche Hand, die angesichts der jahrelangen Bereitschaft, die Unternehmen und die wirklich Reichen steuerlich zu entlasten, de facto überall mehr oder weniger pleite ist.

(38) In den USA sind z.B. die Reallöhne zwischen 1973 und den frühen 90er Jahren um ein Drittel gesunken; diese Tendenz wirkt fort. 
In der Euro-Zone ist es, als Effekt der Euro-Einführung, zu einer Kaufkraftabschöpfung bei den breiten Massen in Höhe von etwa 40-50 Prozent der zuvor verfügbaren Kaufkraft gekommen. In Bezug auf Deutschland kann man sagen: D-Mark Löhne, im Verhältnis zwei zu eins umgerechnet (vorher zwei DM, nach der Umstellung 1 Euro),  stagnierten als Euro-Löhne, sanken zum Teil auch durch Wegfall außertariflicher Leistungen und stiegen in einigen Branchen nominal wieder leicht an. Es änderte sich in der längerfristigen Tendenz – abgesehen vom Wegfall des Weihnachtsgelds, des Urlaubgelds, der Überstundenzuschläge, des in einigen Betrieben gezahlten 13. Monatsgehalts – nicht viel; jedenfalls, wenn der Normalarbeitsplatz  erhalten blieb. Bei den Preise der Güter des täglichen Bedarfs, auch bei den Mieten,  pendelte sich bald tendenziell eher ein Umrechnungskurs von 1:1 ein (vorher 1 DM, nach der Umstellung 1 Euro).  Die Energie- und Wasserkosten sind eine Sache für sich; hier realisieren vor allem die vier großen oligopolistischen Stromkonzerne horrende Extraprofite; die Preisentwicklung ist entsprechend. In das Geschäft mit der Wasserversorgung sind Konzerne wie Veolia eingestiegen.
Der von den Statistiken und den Medien verschleierte, von den Betroffenen aber sehr wohl im Portemonnaie zu spürende Effekt des realen Preisschubs im Gefolge der Euro-Einführung war um so größer, je geringer das Familieneinkommen war und je weniger das Familienbudget daher verwandt wurde zum Kauf sogenannter langlebiger Konsumgüter. 
Hinsichtlich der langlebigen Konsumgüter verhinderte der Kampf der Konzerne um Marktanteile in einem stagnierenden oder schrumpfenden Marktsegment eine ähnliche Entwicklung der Preise wie bei den Gütern des täglichen Bedarfs; die gedämpfte Preisentwicklung bei diesen für die breiten Massen bestimmten, aber dennoch relativ teuren langlebigen Konsumgütern  und ihr Einbezug in den statistischen Warenkorb von Personen, die sich diese Güter längst nicht mehr leisten können, verharmlost das Ausmaß der von den unteren Einkommen erlittenen realen Preisinflation. 
Das Wegbrechen des Erwerbs mittel- und langlebiger Konsumgüter bei den Beziehern niedriger Einkommen betraf bei den Erwerbstätigen unter ihnen übrigens nicht den Erwerb von Autos, die ein wage good darstellen, insofern sie häufig zur Erreichung des Arbeitsplatzes notwendig sind. Wegen ihrer altersbedingten Mängel nicht mehr im Straßenverkehr zulässige Fahrzeuge dieses Personenkreises wurden durch geleaste, also in erheblichem Maße von den Automobilproduzenten kreditfinanzierte Kleinwagen ersetzt, wobei die Regierung dies zeitweise durch ein »Verschrottungsprämie« förderte. 

(39) In den USA hatten  republikanische Vorgänger von Obama krasse Steuererleichterungen für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen durchgesetzt. Aber unter Obama wird das fortgesetzt. Siehe:
“The White House and the GOP are quietly working out a deal that would extend the Bush tax cuts [...] , reports the Washington Post [on Dec.3, 2010]” (N.N., “White House and GOP Moving To Extend Tax Cut”, in. Slate http://slatest.slate.com/id/2276676/?wpisrc=newsletter ). Siehe auch: David S.Herszenhorn, “ Congress Sends $801 Billion Tax Cut Bill to Obama”, in: New York Times, Dec.16, 2010, p. A1  http://www.nytimes.com/2010/12/17/us/politics/17cong.html?_r=1&hp. - In  Europa, auch in Deutschland, wird dieselbe Politik verfolgt, übrigens auch von sozialdemokratischen Regierungen.

(40) Die Militärausgaben der USA machen ca.  5/8 der diesbezüglichen Ausgaben aller Mitgliedsländer der NATO aus. Kritische Wissenschaftler gehen  von einer Billion US-$ (one trillion dollars) pro Jahr aus.  Zugegeben werden rund 700 Milliarden US-$. Die Auflösung des Warschauer Paktes und das Ende des Kalten Krieges hätten eine Möglichkeit zur immensen Einsparung öffentlicher Mittel auf diesem Sektor eröffnet, wenn der Wille dazu bestanden hätte. Das wurde durch die amerikanische Sabotage einer Verhandlungslösung für den  Kosovo-Konflikt, den  provozierten letzten Irak-Krieg sowie den 9/11 Vorfall, dessen  Umstände weitgehend unklar bleiben, hintertrieben.  Zum derzeitigen US-Rüstungsetat, der trotz enormem Budget-Defizit von der US-Regierung erhöht wurde,  siehe auch: “The Obama administration's proposed defense budget for fiscal year 2012, rolled out Monday afternoon by Secretary of Defense Robert Gates […]  amounts to $702.8 billion, broken down as follows: $553 billion for the baseline discretionary Defense Department budget, $5 billion for a handful of mandatory programs, $117.8 billion for the costs of the wars in Afghanistan and Iraq, and—a category usually omitted in these sorts of analyses but clearly laid out in the tables of the White House budget office—$27 billion for "defense-related" programs in other federal departments, nearly half of it for nuclear-weapons labs, reactors, and warhead maintenance in the Department of Energy.[…]  [T]hat $553 billion baseline is vulnerable—all the more so, as it's a bit larger than last year's amount, and because it's stuffed with items that are beginning to make some analysts wonder: What does all this have to do with war and peace in the 21st century? […]  this budget includes $24.6 billion for 11 new ships, including $4 billion for two new Virginia-class submarines and $1 billion for the down payment on a new aircraft carrier.[…] Fred Kaplan, “ The brewing battle over the defense budget”, in: Slate,  Feb. 14, 2011 http://www.slate.com/id/2285080/

(41) Reinhard Marx, ebenda, S. 209

(42) Ebenda, S.180

(43)Ebenda, S.208)

(44) Ebenda, S. 209

(45) Ebenda, S.234

(46) Ebenda, S.157, S.241

(47) Ebenda, S.186 – Selbstverständlich hat Reinhard Marx in diesem Punkt recht: Beides – Arbeitslosigkeit wie das Arbeiten für einen Hungerlohn, wozu man viele zuvor Arbeitslose zwingt, ist entwürdigend. Wie würdevoll oder entwürdigend  »Normalarbeitsverhältnis« sind, dazu müßte man Betroffene hören, statt zu spekulieren. Selbstverständlich ist in der Regel das »Normalarbeitsverhältnis« dem »prekären Job« vorzuziehen, aber ist das ein Grund, es zu idealisieren?

(48)  Ebenda, S. 241

(49) Ebenda, S.179

(50) Ebenda, S.176

(51) Ebenda, S.174; S. 183

(52) Ebenda, S.176 

(53) Eine von Jean-Marie Straub gern benutzteWendung, die den ganzen berechtigten Zorn über die Mediokrität, ja Dummheit gepaart mit Arroganz, vieler sogenannter Experten (und Bürokraten) samt ihrer public relations Leute ausdrückt.

(54) Reinhard Marx, ebenda., S.174 – Gut leben: das impliziert doch dies,  den doppelten Wortsinn, daß wir versuchen, als Gute bzw. das Gute Suchende zu leben, und zugleich uns sehnen danach und danach streben, nicht in entwürdigenden Verhältnissen, nicht im Elend zu leben.

(55) V. Davies gibt eine kurze Zusammenfassung dessen, was Vorschein bei Ernst Bloch meint:   „The preilluminative day-dream Bloch calls Vorschein. Vorschein also
carries the meaning in German of ‘to bring to light’, ‘to glimpse’, ‘to appear’.
This day-dream, then, brings to the surface a glimpse of what is otherwise
concealed within ‘the darkness of the lived moment’ […] .
Vorschein emerge from the everyday but are intrinsically linked to something
non-contemporary: an eruption of the future into the present, which opens it up to
the New or Novum. These New or buried aspects which exist beneath the surface
of the everyday, these future-oriented possibilities, reside within what Thompson
describes as the ‘subaltern’ when he tells us that for Bloch these possibilities have
always been present on the journey toward home, and although they are deeply
buried they nonetheless can be found within religion and within the self
(Thompson 2009, xxviii). These day-dreams, or utopian trace-images, correlate to
what Bloch calls ‘real’ possibility […]” (Victoria DAVIES,  Chapt. 9, « The Future is Latent in the Present: A Phenomenological Interpretation of Ernst Bloch’s Atheistic Eschatology  (With Emphasis on the Image) », in:  The Present Moment - An Interdisciplinary Conference for Postgraduates in Theology. ORA Conference. Sept. 2010,  Oxford University, Conference/Workshop Papers, chapt. 9, pp.124-140,  hier: S. 128).-  Vgl. Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985 [English edition: Ernst Bloch, The Principle of Hope. 3 Vols. Translated by Neville Plaice, Stephen Plaice and Paul Knight. Oxford (Basil Blackwell) 1986] –  Siehe auch: Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen, Teil 1: Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins. Ein Vortrag und 2 Abhandlungen. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1961

(56) Ich beziehe mich hier auf den schon zitierten Satz, also den Bezug auf I. Kant und das daran Anknüpfende bei Reinhard Marx. Ebenda, S.174

(57)  Zu dieser auto-emancipation der von der Lohnarbeit zu leben gezwungenen Menschen ist übrigens laut Marx zwar Selbstorganisation, aber keine Partei im heutigen Sinne, also auch keine KP, zwingend erforderlich und sie könnte sich erst recht nicht, sich auf Marx berufend, eine Führungsrolle anmaßen. Sie, die multitude  der Ausgebeuteten, die Menge der Lohnarbeiter – sofern sie für Veränderung, für Aufhebung der Lohnsklaverei, für befreites Leben und Arbeiten eintretende Menschen sind – waren in Marxens Terminologie »die proletarische Partei«,  das sich erhebende Volk, das auf der einen Seite der Barrikade steht, und keine Gruppierung, keine Partei im heutigen Sinn verdiente bei ihm diesen Namen Partei, während andererseits die »Partei der Reaktion« aus der Masse der das Eigentum verteidigenden Bürger, mit Einschluß der Unternehmer, der Kapitalisten bestand. Und zwar ganz gleich, ob sie nun Liberale, Konservative, Freimaurer, Erzklerikale oder Royalisten waren – sie bildeten, informell, aber geeint durch ihre wesentlichen Interessen und einig in ihrem grundsätzlichen Ziel der Bewahrung des Bestehenden, also ihrer Macht, ihrer politischen Privilegien, ihres Eigentums, »eine Partei«.

(58) Auch Reinhard Marx fordert ein den wírklichen Bedürfnissen gerecht werden. (Reinhard Marx, ebenda, S.179) -  Der heute bei Ökologen, Befürwortern einer nachhaltigen Weise, zu wirtschaften (sustainable economy) und Kritikern des Konsumismus gängige Begriff der ‚real needs’ (wirklichen Bedürfnisse) verdankt sich übrigens der Marxchen Analyse des Fetischcharakters der Ware, seiner Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert und späteren, daran anknüpfenden Überlegungen Herbert Marcuses. Eine nicht länger (auto-) destruktive Produktionsweise, die den Menschen wie auch die natürlichen Ressourcen schont, ist nicht denkbar ohne eine demokratische Feststellung der verfügbaren Ressourcen, eine gesellschaftliche, alle einbeziehende Debatte bezüglich der wirklichen Bedürfnisse (was auf Schrumpfung statt Wachstum des Ressourcenverbrauchs und der Produktion hinauslaufen würde, da die künstlich erzeugten, » falschen « (ja,  falschen!), dem Überflüssigen und der Verschwendung zuzurechnenden Bedürfnisse bei freier, aber vernünftiger und verantwortlicher, gemeinsam getroffener Entscheidung wegfallen würden), und sie ist letztlich angewiesen auf eine dank moderner Kommunikationstechnologie und Vernetzung flexibel justierbare Abgleichung von jeweiligen Produktionszielen und jeweils sich äußerndem Bedarf, bei gleichzeitiger Koordinierung dezentral bzw. lokal organisierter Produktion und durch Vernetzung geregeltem Austausch (gegenseitige Hilfe). Also auf eine weder zentrale noch dezentrale, sondern neuartige, auf vernetzter real time Information und demokratischen Entscheidungen über Ziele, Mittel, und Prioritäten beruhende Planung von unten, die das Gegenteil der bürokratischen Planung zentralistisch organisierter etatistischer Regimes wäre.

(59) Eben das ist auch die Erfahrung, welche die Menschen derzeit in den Vollversammlungen auf den zentralen Plätzen in Kairo, Madrid, Athen machen.
 
 
 
 
 

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